Erna Schmidt-Caroll. Die Berliner Jahre
Burcu Dogramaci
Im Jahr 1916 zog die zwanzigjährige Erna Schmidt-Caroll von Breslau nach Berlin, um ihre künstlerische Ausbildung abzuschließen. Berlin war – ähnlich wie Paris – im frühen 20. Jahrhundert ein magnetischer Anziehungspunkt für Künstler. Die große Künstlervereinigung Berliner Secession hatte ihren Sitz in der kaiserlichen Hauptstadt, behei matet an der Spree waren der Malerfürst Max Liebermann und die wohl bekannteste Künstlerin der Moderne, Käthe Kollwitz, die viele jüngere Talente protegierte. In der Stadt residierten die prominentesten Galerien des Landes. «Nur hinein ins volle Menschenleben […] in Berlin war meine Chance. In Berlin war ‹was los› », 1 beschrieb der Maler und Zeichner George Grosz enthusiastisch seinen Umzug in die Metropole, der von Hoffnung auf künstlerischen Durchbruch und der Sehnsucht nach Kultur geprägt war.
Während ihrer Berliner Jahre entwickelte Erna Schmidt-Caroll, beeinflußt von den großen künstlerischen Strömungen jener Zeit, einen zeitkritischen, scharfen eigenen Stil. Pointiert visualisierte sie die vielen Gesichter der Metropole: gebrechliche Alte auf der Parkbank, blinde Straßenverkäufer, Kriegsgewinnler und großbürgerliche Paare. Ihre Motive fand die Künstlerin auf den Straßen und in den Cafés, in den Theatern und Kabaretts der Weltstadt. Ihre Bilder sind künstlerische Dokumente einer vergangenen Epoche – des Berlins der zwanziger und frühen drei ßiger Jahre. In der Wahl der Malmittel war die Künstlerin äußerst variabel. Ihren künstlerischen Ursprung hatte Schmidt-Caroll in der feinen Bleistift- und Tuschzeichnung, von der sie sich mit der Zeit immer mehr zugunsten einer freien, malerischen Ausdrucksweise löste. Aquarell, Tempera, Kohle und Kreide gehörten zu den bevorzugten Materialien, die sie oftmals in Mischtechnik anwandte. Als Dozentin an der renommierten Reimann-Schule prägte Erna Schmidt-Caroll über viele Jahre eine ganze Generation von jungen Künstlern und war eine Leitfigur bei der Gestaltung der über die Berliner Grenzen hinaus bekannten Reimannschen Kostümbälle.
Im Jahr 1943 mußte Erna Schmidt-Caroll die Stadt verlassen, die ihr 27 Jahre lang Heimat gewesen war und die ihr künstlerisches Schaffen so stark geformt und beeinflußt hatte. Das alte, schillernde Berlin der Weimarer Republik war schon ein Jahrzehnt früher mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten untergegangen. Die radikalen Veränderungen jener Jahre ließen auch sie nicht unberührt. Albert Reimann, der Gründer der gleichnamigen Schule, der Schmidt-Caroll über lange Jahre Vorgesetzter, Kollege und Freund war, ging in das Londoner Exil; viele Lehrer mußten die Schule verlassen. Ganz ähnlich sah es in den Zeitschriftenredaktionen, den Modeateliers und künstlerischen Vereinigungen aus. Jüdische Mitarbeiter wurden entlassen, Besitzer renommierter Modehäuser zwang man zum Verkauf ihrer Geschäfte und die Printmedien veränderten sich im Rahmen der «Gleichschaltung» bis zur Unkenntlichkeit. Der Exodus der Berliner Kultur- und Modelandschaft in Folge der nationalsozialistischen Machtergreifung gipfelte in den Zerstörungen des Krieges. Die Künstlerin Erna Schmidt-Caroll ließ ihr Berliner Leben hinter sich. Sie kam nicht wieder zurück.
Künstlerische Anfänge
Schon früh schulte Erna Schmidt-Caroll ihre zeichnerische Begabung an Motiven ihres Umfelds und zeichnete vor allem Episodisches aus dem familiären Alltag. Die 1896 geborene Künstlerin lebte mit ihren Eltern – der Vater Rudolf Schmidt war Ingenieur – und ihren zwei Schwestern nach vielen Ortswechseln im oberschlesischen Neisse. Erna, die Jüngste der drei Geschwister, war bereits als Kind eine gute Zeichnerin, deren künstlerischen Produkten sich Rudolf Schmidt mit großer Sorgfalt annahm und sie datierte. «Sie zeichnete vom 3. Lebensjahr an. Das Umgehen mit Papier und Bleistift wurde ihre Lieblingsbeschäftigung; man könnte von einer kindlichen Leidenschaft sprechen, denn wo sie ging und stand, zeichnete sie und zwar alles, was sich um sie herum an Leben abspielte, besonders die Menschen.» 2 Alltägliches und Phantastisches wurde dabei zu humorvollen Bildergeschichten verdichtet und später von einer der Schwestern mit Kommentaren versehen. So zeigt eine mit zarter Tuschfeder ausgeführte Zeichnung der Elfjährigen die Familie vor der Auslage eines Spielzeuggeschäfts, wobei sich Erna den vergeblich herbeigesehnten Bruder zeichnerisch hinzuphan tasiert (Abb.). Die Liebe zum Narrativen, eine Sorgfalt auch dem Detail gegenüber und die pointierte Umsetzung von Alltagsepisoden kennzeich nen diese frühen Arbeiten der Künstlerin, die an der Schule als künstleri sche «Wunderbegabung» galt.3
Der Vater gewährte allen drei Töchtern ein Studium, wobei er sie in ihren Ambitionen bestärkte und ihnen die freie Wahl des Faches überließ.
Dies war keine Selbstverständlichkeit im Wilhelminischen Kaiserreich, in dem Traditionen und Konservatismen das Frauenbild prägten. Es war eine Zeit, in der Mädchen vor allem auf das Heiraten vorbereitet wurden und nicht auf eine berufliche Laufbahn. Während die eine, Margarete Schmidt, Ärztin wurde, wählten die beiden ande ren Schwestern eine künstlerische Ausbildung. Franziska, die Älteste, arbeitete mit Stickereien und Applikationen. Auch Erna wollte Künstlerin werden, verließ nach der zehnten Klasse die Mädchenschule und suchte nach einer Möglichkeit, eine fundierte Ausbildung zu erhalten. Zu jener Zeit konnten und durften Frauen sich zumindest dilettierend mit Kunst beschäftigen. Vielen jungen Mädchen war es gestattet, die Malerei als Freizeitbeschäftigung auszuüben und zur Vorbereitung auf ein Leben als Ehefrau und Mutter zu erlernen. Dazu wurden Kurse in Privatateliers angeboten. An den meisten Kunstakademien durften allerdings Frauen nicht studieren. Nur an weni gen Kunsthochschulen hatten Studentinnen Zugangsberechtigung. Begründet wurde das Verbot vor allem damit, daß die für eine künstlerische Ausbildung notwendigen Aktzeichenkurse nicht gemeinsam für Damen und Herren angeboten werden könnten.
Erna Schmidt wählte als Studienort Breslau, wo sie sich an der Königlichen Kunstakademie einschrieb. Dort waren Frauen bereits seit der Gründung 1876 zugelassen. 4 Breslau war die Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien und schon damals ein kulturelles und wissenschaftliches Zentrum mit Hochschulen, Akademien, Theatern und Museen. An der Akademie hatten bereits Willy Jaeckel (1906 – 08 ), in den zwanziger Jahren ein bekannter Porträtist, und der Expressionist Ludwig Meidner (1903 – 05) studiert. Meidner klagte später über seine zweijährige Studienzeit und die konservative Ausbildung: «Da mußte ich zwei Jahre lang Töpfe, Totenschädel und ausgestopfte Vögel zeichnen mit schweißtropfender Pedanterie.» 5 Im Sommersemester 1914 immatrikulierte sich die 18 jährige Erna Schmidt an der Breslauer Akademie, deren Direktor zu jener Zeit der Architekt Hans Poelzig war. Unter seiner Leitung wurde das Zeichnen als Grundlage aller Künste gefördert – so führte Poelzig beispielsweise in seinem Unterricht das neue Fach Stegreifentwerfen ein und begründete ein Seminar für Zeichenlehrer. 6 Erna Schmidt, die eine starke Affinität zum Zeichnen hatte, besuchte die Fachklasse von Arnold Busch. Der Künstler hatte 1901 als Lehrer am Zeichenlehrer-Seminar der Breslauer Kunst- und Kunstgewerbeschule angefangen und war 1912 zum Professor ernannt worden. Neben der Lehre wirkte Busch vor allem als Porträtist. Sein Unterricht basierte
auf «gründlichem Studium, hoher zeichnerischer Kultur und malerischer Naturauffassung. Und statt viel zu theore tisieren, führte er seine Studenten in den Breslauer Zoo und ließ sie Tiere zeichnen.» 7 Die genaue Beobachtung der Umgebung und die zeichnerisch präzise Umsetzung des Gesehenen vermittelte Busch auch seiner Schülerin Erna Schmidt. Schon kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Busch dem Landsturm an der Ostfront zuge teilt. Bald darauf ernannte man ihn zum Kriegsmaler, und er erhielt den Auftrag, eine Porträtserie der militärischen Leitfiguren anzufertigen. Da der Maler sich in den folgenden Jahren an verschiedensten Kriegsschauplätzen aufhielt, um Hindenburg, Ludendorff und Zeppelin zu malen, dürfte er seine Lehrtätigkeit in Breslau nur noch sporadisch durchgeführt haben. Der Krieg machte eine kontinuierliche Ausbildung in jenen Jahren nahezu unmöglich. Hans Poelzig trat sein Direktorat 1916 an den Architekten August Endell ab.
Vermutlich ist in diesen personellen Veränderungen die Ursache zu sehen, warum Erna Schmidt ihr Studium an der Breslauer Akademie im Jahr 1916 abbrach. Der genaue Zeitpunkt, an dem sich Erna Schmidt den Künstlerbeinamen Caroll zulegte und was sie dazu inspirierte, ist nicht zu rekonstruieren. Es ist jedoch wahrschein lich, daß sie – ähnlich wie der Maler Karl Schmidt-Rottluff – ihrem gängigen Nachnamen einen besonderen Zusatz geben wollte, um sich und ihre Werke unterscheidbar zu machen.
Schule des Sehens
Mit der Übersiedlung nach Berlin begann für Erna Schmidt-Caroll eine der wichtigsten Schaffensphasen ihres Lebens, in der sie ihren charakteristischen künstlerischen Stil entwickelte und motivisch den großstädtischen Alltag reflektierte. Wie die Künstlerin in späteren Jahren notierte, erhielt sie wichtige Impulse während ihrer Ausbildung an der Unterrichts-Anstalt des Staatlichen Kunstgewerbemuseums in den Jahren 1916 bis 1921. 8 Nach Berlin war Schmidt-Caroll wegen eines Artikels des Architekten Hermann Muthesius, Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbundes, gekommen. In seinem im Jahr 1915 in der Zeitschrift Die Woche erschienenen Aufsatz mit dem Titel Der Krieg und die deutsche Modeindustrie forderte Muthesius eine von Frankreich unabhängige deutsche Mode und ermahnte junge Künstler, sich der Mode als «Lebensberuf» zu widmen. 9 Erna Schmidt-Caroll schickte dem Autor einige Arbeitsproben, und Muthesius vermittelte die Künstlerin an das Berliner Modehaus Hermann Gerson als Zeichnerin für Modeentwurf. Das Atelier Gerson war eines der etablierten Berliner Modehäuser, das bereits seit 1836 existierte und eine «exklusive, aber auch sehr teure Damenkleidung von internationalem Niveau» 10 vertrieb. Bereits nach wenigen Monaten beendete Schmidt-Caroll ihre Anstellung im Einvernehmen mit Hermann Freudenberg, einem der vier Inhaber von Gerson. Sie hatte sich entschlossen, ihr in Breslau begonnenes Studium an der Schule des Berliner Kunstgewerbemuseums fortzusetzen. Dort lehrte seit 1904 der Künstler Emil Orlik. «Als Lehrkraft eine der gesuchte sten und bei den Schülern wie im Kollegium einer der beliebtesten Kollegen», so äußerte sich der Direktor der Schule, Bruno Paul, über Orlik, und nennt ihn an anderer Stelle einen «Kunstlehrer, wie er in solcher Zusammensetzung nur alle hundert Jahre vorkommt». 11 In der Graphikklasse des vielgelobten Orlik wurde Erna Schmidt-Caroll vor allem im Zeichnen nach der Natur und im Aktzeichnen geschult; im Jahr 1920 wurde sie seine Meisterschülerin.
Viele Schüler Orliks entfalteten ein besonderes zeichnerisches Talent, das wahrscheinlich erst durch den Lehrer entdeckt und gefördert wurde. Dazu gehörten arrivierte Künstler der zwanziger Jahre, wie Karl Hubbuch und George Grosz, dem Orlik Kinderzeichnungen zum Kopieren gab. Zu der Schar der von Emil Orlik geprägten graphischen Talente gehörte auch Erna Schmidt-Caroll. Zum 50. Geburtstag Orliks schufen 38 seiner Schüler, darunter John Friedlaender, George Grosz und Karl Hubbuch, eine Geburtstagsmappe. Schmidt-Caroll fertigte ebenfalls einige Zeichnungen zu diesem besonde ren Jubiläum, die noch heute in einem Skizzenbuch erhalten sind. Die Blätter zeigen Personen in historischen und exo tischen Kostümen. Auf einer Zeichnung bilden Männer und Frauen einen feierlichen Festzug; sie tragen Pluderhosen, Turbane und Säbel. In ihren Händen halten die Orientalen ein Banner, auf dem der Schriftzug «Emil Orlik» erkennbar ist. An der Spitze des Aufmarsches verbeugen sich einige Männer. Die Künstlerin isolierte diese vordere Gruppe in zwei Studien, um den Moment des Verbeugens und die Gestalt des Fahnenträgers gesondert zu probieren (Abb. S. 16). Eine andere, besonders prächtige Arbeit aus dieser Serie zeigt den Festzug an einem fernöstlichen Schauplatz (Abb.). Diese kolorierte Bleistiftzeichnung ist dicht mit Figuren bestückt, die von rechts nach links schreiten. Sie tragen Lampions und Fahnen in Händen, auf denen eine «50» und der Name «Orlik» pran gen. Die traditionellen chinesischen Kostüme sind detailliert ausgeführt, dazu sind viele Requisiten wie Fächer und konische Hüte erkennbar.
Das exotische Ambiente und Bildpersonal sind eine Reminiszenz an die Reiselust Orliks, die ihn in fernste Länder führte. 1900 war er nach Japan gereist, im Jahr 1912 nach Ägypten, Ceylon, China, Korea und Japan. Gleichzeitig subsumieren diese Schülerarbeiten, und dies macht sie retrospektiv zu einem wichtigen Bestandteil des Œuvres, wesentliche Merkmale der künstlerischen Auffassung Schmidt-Carolls: Die Freude an der exotischen Verkleidung und am Erzählerischen wird durch einen gleichermaßen energischen wie feinfühligen Duktus in eine freie Künstlerzeichnung übersetzt. Der kraftvolle Strich umschreibt Körper und Formen auch in Details und entfaltet auf engem Raum eine phantastische Szenerie.
Im Unterricht praktizierte Orlik eine «Schule des Sehens», 12 indem er seinen Schülern eine genaue Beobachtungsgabe als Fundament für das künstlerische Schaffen nahe brachte. Orlik selbst hatte ein sehr präzises und geübtes Auge mit Blick für Details. Er war für seine Porträts bekannt, in denen er die Eigenart seiner Modelle mit nur wenigen Strichen charakterisieren konnte: «Nahezu die gesamte Prominenz der damaligen Reichshauptstadt mit ihrem pulsierenden Leben wurde von Orlik mit dem Zeichenstift erfaßt. Ob Männer von Geist oder elegante Frauen, ob Theaterprominenz oder Kollegen am Stammtisch im Romanischen Café, bei allen gesellschaftlichen oder kulturellen Veranstaltungen war Orlik zugegen und hielt für sich und auch für uns als Nachwelt alle diese Ereignisse und Personen fest.» 13 Diese Lust am Beobachten und die zeichnerische Umsetzung des Gesehenen war auch für seine Schülerin Erna Schmidt-Caroll charakteristisch. Schon als Kind vom Habitus und der äußeren Erscheinung ihrer Mitmenschen fasziniert, prägte die Künstlerin dieses Interesse unter dem Einfluß ihres Lehrers weiter aus. In einem «Lehrgedicht für meine Schüler» skizzierte Orlik seine Maximen: «Betrachte lange, was du zeichnen willst! Mache dich vertraut mit dem Objekt! Wie es sich aufbaut, die Formen plastisch sich verbinden, wie die Bewegung im Lebendigen zur Ruhe sich verhält.» Hierbei wird deutlich, daß der Künstler bei einer raschen Zeichnung ein intensives Studieren des Modells forderte. Wenn man Orlik einen «unermüdlichen Chronisten des Augenblicks» 15 nennt, dann gilt dies auch für seine Schülerin.
Im Großstadtcafé
Viele kleine Zeichnungen und auch großformatige farbige Blätter prägen das Werk Schmidt-Carolls aus den zwan ziger und dreißiger Jahren. Diese Arbeiten bilden ein Panoptikum der Großstadt, das eine vergangene Epoche und ihre Menschen kolportiert. Ihre mondänen Berlinerinnen und saturierten Parvenüs geben dem Tag- und Nachtleben der Weimarer Republik ein Gesicht. Ebenso wie Emil Orlik, der immer wieder die «sorglosen unsteten Nichtstuer […] Angler, Schlafende, Hockende, Sitzende, Bettler, Tagesdiebe» 16 zeichnete, skizzierte auch Schmidt-Caroll die Menschen in ihrer Freizeit, en passant, im Vorübergehen. Sie zeigt Menschen im Café, beim Gespräch und auf der Straße. Diese Arbeiten stehen in der Tradition der Künstlerflaneurs. So wie die Schriftstellerin Djuna Barnes in ihren Essays der Stadt New York und ihren Bewohnern ein literarisches Gesicht verlieh, fand SchmidtCaroll in den Straßen Berlins Motive, um einen flüchtigen Augenblick im Bild festzuhalten. Der Flaneur «tritt als Physiognomiker und Chronist in Erscheinung, als Spaziergänger und als Detektiv, als Erotiker und als Philosoph im öffentlichen Raum».17
Als flanierende Künstlerin steht Erna Schmidt-Caroll ganz in der Tradition französischer Künstler des 19. Jahrhunderts wie Edouard Manet, Edgar Degas und Henri de Toulouse-Lautrec, die den öffentlichen Raum der Großstadt für ihre Kunst entdeckten. Sie machten die Straßen zu ihren Schauplätzen; ihre Modelle standen nicht in Ateliers, sondern wie in Manets Bar in den Folies-Bergère eher am Tresen eines Lokals. Den Mittelpunkt der großstäd tischen Vergnügungswelt bilden bei Schmidt-Caroll die Cafés und Restaurants – Orte der flüchtigen Begegnung. In Berlin spielte sich das alltägliche Kulturleben vor allem in Kaffeehäusern wie dem Romanischen Café oder dem Café des Westens ab, wo die Bohème verkehrte und Künstler ihre Stammtische hatten. Doch nicht die Prominenz interessierte Erna Schmidt-Caroll, vielmehr waren es die anonymen Gäste, denen sie in vielen Zeichnungen und kolorierten Arbeiten nachspürte.
Das Leben im Kaffeehaus, das Kommen und Gehen der Gäste bildet das Thema einer größeren Folge kolo rierter Zeichnungen, die Mitte der zwanziger Jahre entstanden. In jedem dieser Blätter hat die Künstlerin einen Moment aus dem Lauf der Zeit festgehalten und so mit scharfem Blick und Gespür für den typischen Ausdruck einer Gestalt ein Panorama großstädtischer Freizeitkultur geschaffen. Das Blatt Unter der Markise im Café (Tafel 5) von 1928 variiert ein Motiv: das Aufeinandertreffen von Menschen im öffentlichen Raum der Großstadt, die in wechselnden Konstellationen zusammenfinden, um schon bald wieder verschiedene Wege zu gehen. Eine auffällige Erscheinung mit tief ins Gesicht gezogener Kappe stützt mit lässiger Geste das Kinn auf die Hand und schaut in die Ferne. Ihr Gesicht ist von einer Tischlampe illuminiert und in warme Rot- und Gelbtöne getaucht, wobei ein Schatten Nase und Augen verdunkelt. Abgegrenzt ist die Szene im oberen Bildrand durch eine gestreifte Markise, die den Ort des Geschehens als Terrasse eines Cafés beschreibt. Im Hintergrund sitzt ein Herr mit Fliege und Melone; er ist in die Zeitungslektüre vertieft. Das Skizzenhafte besonders dieser Gestalt verweist auf eine Eigenart der Künstlerin: ihr Bestreben, das Transitorische des Augenblicks festzuhalten. Mit schnellen Bewegungen bannte sie eine Szene oder ein Modell auf Papier, wobei der Eindruck des Skizzenhaften zur künstlerischen Methode wird. Es gibt so gut wie keine räumliche Distanz zu den Porträtierten. Dies ist keine unbeteiligte Beobachterperspektive – ganz im Gegenteil: Die Künstlerin tauchte mitten hinein ins großstädtische Treiben; sie rückte den von ihr visualisierten Großstadttypen optisch sehr nah. Der Betrachter nimmt an einer intimen Szenerie oder einem Gespräch zwischen Cafébesuchern teil.
Menschen stellt Erna Schmidt-Caroll stets in ihrer großstädtischen Umgebung dar. Orte sind kulissenhaft ange deutet; Versatzstücken gleich finden sich in den Bildern beschreibende Elemente wie etwa die Lampen und Tische eines Restaurants, in dem eine einsame Dame mit abwesendem Blick ihren Kaffee zu sich nimmt (Tafel 19) oder eben jene Markise, unter der eine willkürliche Konstellation an Kaffeehausgängern für kurze Zeit zusammenfindet. In einer kolorierten Zeichnung um 1925/27 (Tafel 12) ist das Gedränge auf der Terrasse groß; die Gäste sitzen dicht nebeneinander, man steckt sprichwörtlich die Köpfe zusammen, schaut umher und raucht. Schon der nächste Moment im hektischen Großstadttreiben mischt die Menschen wieder durcheinander. Das vermitteln schon der hingeworfene Strich, die gekrakelten Linien einer Hochsteckfrisur und die scheinbar spontan platzierten Farbtupfer. Auffällig ist das satirisch Überzeichnete und das Typisierende – ironisierend hebt Schmidt-Caroll eine spitze Nase hervor oder läßt den Gigolo mit dem pomadisierten Haar die Zähne blecken. In solchen Arbeiten wird ein Wesenszug der Großstadtbilder Erna Schmidt-Caroll offenbar. Die Künstlerin entwirft eine Phänomenologie des Großstadtmenschen; sie liefert keine individuellen Porträts, sondern malt und zeichnet Typen, denen wie bei klassischen Allegorien charakterisie -rende Attribute zugeordnet sind. Solchen Typen begegnen wir auch in den Bildern anderer Großstadtkünstler der zwanziger Jahre wie Jeanne Mammen, Rudolf Schlichter und besonders George Grosz, der immer wieder bourgeoise Kriegsgewinnler anprangerte und mit beißendem Spott veristisch aufs Papier brachte. Bei den Arbeiten von Erna Schmidt-Caroll erscheint der kritische, sarkastische Unterton jedoch deutlich abgemildert; ihre Bilder sind – im Unterschied zu dem politisch linken Grosz – nicht nachweislich sozialkritisch motiviert. Dennoch ist eine Nähe der künstlerischen Auffassungen spürbar. Ähnlichkeiten zu den Werken von George Grosz finden sich bei Erna SchmidtCaroll auch in der Treffsicherheit der mit wenigen Strichen umrissenen Figuren und jener zeichnerischen Virtuosität, die bei beiden Künstlern von dem Lehrer Emil Orlik geschult wurde.
Menschen auf der Straße
Mit spitzem Stift und genauer Beobachtungsgabe schuf Erna Schmidt-Caroll ein bisweilen ironisierendes Gesellschaftsbild. Die Motive und die künstlerische Ausführung ihrer figürlichen Arbeiten aus der Berliner Zeit stehen – wollte man sie einer Kunstrichtung, einem Stil oder Ismus zuordnen – dem Verismus der zwanziger Jahre nahe. Dieser vom Kunsthistoriker und Museumsdirektor Gustav Friedrich Hartlaub im Jahr 1923 einge führte Begriff wurde als Variante der Neuen Sachlichkeit verstanden und als «grell zeitgenössisch» mit «nervöser Selbstentblößungssucht» umschrieben. 18 Hartlaub versuchte damit – nach den Abstraktionen des Expressionismus eine am Gegenständlichen orientierte Kunst zu definieren, die zum einen einen klassizistisch-konservativen Flügel und zum anderen eine scharfe, gesellschaftskritische Ausprägung, den Verismus, besaß. Im eigentlichen Sinne ist der Verismus ein Konstrukt der Kunstgeschichte, da die Künstler, deren Werke dieser Kunstrichtung zugeordnet werden, keine Gruppe bildeten und auch kein gemeinsames Manifest verabschiedeten. Mit Begriffen wie «Neue Sachlichkeit» und «Verismus» wurde der Versuch gewagt, ein vielschichtiges Phänomen zu erfassen und sich dabei auf motivische und stilistische Übereinstimmungen zu berufen.
Zum bevorzugten Bildgegenstand veristisch arbeitender Künstler wie George Grosz, Otto Dix und Jeanne Mammen gehört nicht nur die «Demimonde» mit ihren Zuhältern und Prostituierten, sondern auch die Menschen der Straße, die Armen ebenso wie die Neureichen. In Überbetonung des phy siognomisch Häßlichen oder der Entlarvung zwischenmenschlicher Tragödien entwarfen die Veristen ein provozierendes Gesellschaftsbild. In ihrer im Jahr 1930 entstandenen Federzeichnung stellt Schmidt-Caroll mit harten Linien einen blin den Straßenverkäufer (Tafel 17) dar. Der Mann sitzt vor einem hohen Zaun, hinter dem – als Verweis auf die Großstadt – ein mehrstöckiges Mietshaus erkennbar ist.
Mit nur wenigen Strichen fing die Künstlerin den tristen Gesichtsausdruck und die ärmliche Kleidung des Blinden ein. Die Mundwinkel sind nach unten gezogen, die Augen geschlossen. Überdeutlich prangen die drei Punkte auf der Armbinde. Der Blinde betitelte Schmidt-Caroll das Blatt, und in seiner kompromißlosen Darstellung des Elends erinnert es deutlich an Arbeiten von George Grosz oder Otto Dix, in denen diese nach der bitteren Erfahrung des Ersten Weltkrieges der Verzweiflung ein Gesicht gaben. In einer um 1920 entstandenen Reihe von Straßenszenen wie Der Streichholzhändler oder Prager Straße, in denen Invaliden, blind, zahnlos und mit verstümmelten Gliedmaßen, ein tristes Dasein als Bettler und Straßenhändler führen, übersetzt beispielsweise Otto Dix den Gegenstand in eine bösartige Groteske; er formuliert eine bizarre Allegorie auf eine kriegsbeschädigte Gesellschaft. Dagegen wirkt Schmidt-Carolls Zeichnung des Blinden fast nüchtern, ja sachlich, wie das künstlerische Protokoll eines tristen Schicksals. Schmidt-Carolls Zeichnung entstand in den Jahren der Rezession, als die Wirtschaft der Weimarer Republik kollabierte und zahlrei che Menschen ihre Arbeit und soziale Stellung verloren.
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Paar in der Großstadt III, 1931
Aquarell, 62 x 49 cm Burcu Dogramaci
Bei ihren künstlerischen Streifzügen durch die Straßen Berlins konzentrierte sich Schmidt-Caroll auf ein zelne Motive wie den Blinden oder die stilistisch verwandte Ballspielende und Figurenkonstellationen. Auffallend ist eine großangelegte Serie der Paare auf der Straße, mit der Schmidt-Caroll dem Moment der Entfremdung und Kommunikationslosigkeit als Phänomen der Zeit ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Paar in der Großstadt II (Tafel 21) lautet der Titel eines Aquarells, das ein Paar vor einer abstrahierten Häuserfront auf der Straße zeigt. Während der Mann seiner Begleiterin den mächtigen Rücken zukehrt, schaut sie nach vorn. Seine hinten gekreuzten Hände und die imposante Gestalt vermitteln Selbstbewußtsein, während sie sich schüchtern an den Händen hält. Trotz räumli cher Nähe findet keinerlei Austausch zwischen den beiden statt. Das Fremdsein im Beieinander ist auch das Thema von Paar in der Großstadt I (Tafel 20), datiert 1931. Vor dem Hintergrund eines angedeuteten Straßenbildes schreitet eine im Profil gezeigte Dame in grünem Mantel mit mächtigem Fellkragen nach rechts. Weiter hinten steht ein Herr. Auch hier divergieren Blickachsen und Körperhaltung. Auch in diesem Paarbild sind die Dargestellten dem saturierten Bürgertum zuzuordnen, das in Gestalt des untersetzten Mannes mit dem Hut auch in Arbeiten ande rer Berliner Künstler begegnet. Ähnlich beziehungs- und leidenschaftslos spaziert das bourgeoise Paar (Abb. S. 19) Seite an Seite. Das nach außen getragene Selbstbewußtsein der beiden wird durch die körperliche Dominanz zum Ausdruck gebracht – bildfüllend sind die beiden in Szene gesetzt. Sie trägt einen mächtigen Pelzkragen, der ihre opulente Gestalt noch betont. Ihr Gesicht mit dem blasierten Ausdruck und dem zugekniffenen Mund ist nur angedeutet, ebenso die großen Rougeflecken. Auf eine fragmentarische Zeichnung malte Schmidt-Caroll mit Aquarellfarbe, die stark mit Wasser verdünnt wurde und an vielen Stellen ineinander fließt.
So kontinuierlich sich spezifische Motive und Themen durch ihr Œuvre der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ziehen, so experimentell und wandlungsfähig ist der künstlerische Stil der Erna Schmidt-Caroll. Von der reduzierten Federzeichnung bis hin zur expressiv aquarellierten Malerei hat die Künstlerin einen vielseitigen, innovativen Ausdruck. 1931 datiert das Blatt Zwei Herren unterwegs (Tafel 18 ), in dem die Passanten aneinander vorbei eilen. Die strenge Physiognomie artikuliert sich in wenigen Strichen und wird dann aufgelöst durch einen verwässerten Farbauftrag. Während die vordere Gestalt in dunklen, kräftigen Tönen gehalten ist, verschwindet der hintere Mann schon fast, so dünn und flüchtig legt sich die Farbe auf die Gestalt. Wieder begegnen sich die Dargestellten nicht – sie eilen aneinander vorbei. Ein Moment des Innehaltens und der Kommunikation scheint auf den Straßen der Stadt unmöglich zu sein.
Die Mondänen
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In den zwanziger Jahren trat ein moderner Frauentypus hervor, der sich tagsüber herb, emanzipiert, selbstbewußt und in der Nacht mondän und elegant gab. Wenn Erna Schmidt-Caroll sich dieser Frauen motivisch in einer Vielzahl von Bildern annahm, so handelte es sich nicht um differenzierte Porträts, sondern vielmehr um eine verallgemeinernde Typologie dieses neuen Frauenbildes. Bubikopf, kurze Röcke und ein gewachsenes Selbstbewußtsein sind Schlagworte, die in der Literatur jener Zeit oftmals mit dem Phänomen der «Neuen Frau» in Verbindung gebracht werden. In Schmidt-Carolls Bildern vermittelt sich ein neues Lebensgefühl und das veränderte Selbstverständnis jener Generation von Frauen, die noch während der konservativen Kaiserzeit geboren wurden und nun vor allem in den Großstädten den öffentlichen Raum in Beruf und Freizeit für sich eroberten. Nicht selten ist Schmidt-Carolls Blick auf die Frauen ihrer Zeit ungeschönt, denn in der satirischen Überzeichnung physiognomischer Details konnte die Künstlerin typische Attribute der Großstädterin deutlich hervorbringen. Paradigmatisch ist die Zeichnung Dame mit Ohrring, um 1928, (Abb.) in der die hervorstechende Physiognomie einer «Neuen Frau» in unbarmherziger Schärfe proto -
Dame mit Ohrring, um 1928
Bleistift und Kohle auf Papier, 46 x 59 cm Die Berliner Jahre
kolliert ist. Der strenge Kurzhaarschnitt, die markante Nase und die herbe Gesichtskontur charakterisieren die Dargestellte als Typus, der gängigen Schönheitsidealen von Weiblichkeit widerspricht. Die Schärfe des Strichs, bei dem die schrägen Linien eine kraftvolle Komposition erschaffen, in der die Figur den Bildraum in ihrer mäch tigen Präsenz besetzt, unterstreicht die selbstbewußte Wirkung. Auffällig ist bei Schmidt-Caroll das Wechselspiel zwischen Fläche und Linie: Während das kräftige Schwarz der Haare und geschminkten Lippen – als nach außen getragenes Merkmal einer modernen Erscheinung – besonders betont sind und mit der weiß belassenen Fläche des Untergrunds kontrastieren, konturieren die kräftigen Linien den hageren Körper.
Sie repräsentiere eine ganze Zeitepoche, rief Otto Dix aus, als er sich der Journalistin Sylvia von Harden vorstellte. Sein Porträt der Schriftstellerin, das ihre magere Gestalt und das herb-maskuline Erscheinungsbild unge schönt ins Bild setzt, ist in derselben Weise typisierend wie es auch die Dame mit Ohrring ist. Dix reduzierte in seinem berühmten Bild die Dargestellte auf Erscheinungsmerkmale der «Neuen Frau»: Monokel, der typische Haarschnitt der maskulinen Garçonne, das schmale, kastenartige Kleid, das die Knie freiläßt und die brennende Zigarette in der Hand. In dieser Herausstellung charakterisierender Attribute wird aus dem individuellen Bildnis ein weibliches Typusporträt der zwanziger Jahre. Mit Blick auf die Attribute, mit denen die Protagonistinnen SchmidtCarolls ausgestattet sind, finden wir ebenfalls das Markenzeichen der emanzipierten Frau: die Zigarette. Das öffentliche Rauchen, vormals den Männern vorbehalten, ist hier Teil eines zur Schau gestellten Selbstbildes, das auch bei Otto Dix’ Sylvia von Harden begegnete. Exemplarisch für die Großstadtfrauen der Schmidt-Caroll ist die um 1928 entstandene Dame mit Zigarette (Tafel 1): Mit Kohlestift in dem ihr eigenen, dynamischen Strich fertigte SchmidtCaroll das Bildnis. Rotbraune Pastellkreide ist über Gesicht und Hände gelegt, ohne daß die Künstlerin auf plasti sche Formulierung abzielte. Der Mund ist ein roter Fleck, die weiche Oberflächenbeschaffenheit des Pelzkragens findet ihre Umsetzung in verwischten Kreideflächen. Die als Halbfigur festgehaltene Dame hat die enge Kappe so tief in die Stirn gezogen, daß die Augen nur mühsam darunter hervorschauen können. Dominant wirkt die Frau, deren physische Präsenz den Bildraum nahezu vollständig ausfüllt – der mächtige Fellkragen und die zwischen den Fingern eingeklemmte Zigarettenspitze verstärken diese Wirkung noch. Diese Arbeit bringt nicht nur den scharfen Beobachterblick Schmidt-Carolls zum Ausdruck, die im flüchtigen Skizzieren ein modisches Detail oder eine Handhaltung pointiert einzufangen wußte. Auch der lockere Umgang mit diversen Malmaterialen und die sehr freie, bis ins Karikierende gehende Bildsprache werden in der Dame mit Zigarette ersichtlich.
Neben der Zigarette gehören vor allem kosmetische Accessoires zu den Attributen des Damenporträts der zwanziger Jahre: «Als besonders emanzipiert galten Frauen, die sich mit Hilfe von Puderdöschen oder Lippenstift in der Öffentlichkeit schminkten. […] Puderdöschen und Lippenstifte waren Erfindungen der modernen Kosmetikindustrie, die es ermöglichten, das Make-up zwischendurch aufzubringen.» 19 Gehörte die im heimischen Schlafzimmer bei der Morgentoilette sitzende Frau im 19. Jahrhundert zum festen Bildprogramm, so wurde der Vorgang der kosmetischen Korrektur nun nach außen verlagert. Erna Schmidt-Caroll zeigt viele Frauen ihrer Zeit beim öffentlichen Schminken und Betrachten im Spiegel – ein Vorgang, der auch kompositorisch in den Mittelpunkt gesetzt wird. Im Aquarell Blick in den Spiegel (Tafel 26) ist das Brustbild einer Dame zu sehen, die in narzißtische Selbstbetrachtung versunken ist. Sie ist in Dreivierteldrehung dem Betrachter zugewandt, ohne von ihm Notiz zu nehmen.
Stattdessen blickt sie mit hochgezogenen, schmalen Augenbrauen in einen Handspiegel und schaut prüfend ihre roten Lippen an. Während das locker aquarellierte Bild mit den kräftigen Farben und verschwimmenden Formen keinen Anhalt zur Lokalisierung des Geschehens gibt, stellt Schmidt-Caroll ihr Bildpersonal in anderen Arbeiten deutlich in einen städtischen Kontext, wie in den Café- und Straßenbildern. Die Frauen sind ganz selbstverständ -
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Dame vor Café, um 1928
Aquarell, 43,3 x 31,2 cm Burcu Dogramaci
lich im öffentlichen Raum installiert: eine Innovation und das Zeichen zunehmender Emanzipation eingedenk der gängigen Bildmuster vergangener Zeiten, die eine Frau nur in ihrer häuslichen Umgebung lokalisierten. Bei Schmidt-Caroll erscheinen zentrale Orte der urbanen Alltags- und Freizeitkultur als auswechselbare Kulissen, die der Definition des Dargestellten dienen. So ist eine Dame mit tristem Gesichtsausdruck und Fellkragen vor das Schaufenster eines Friseurgeschäfts gestellt, über dem der Schriftzug «Dauerwellen» prangt (Tafel 22). Die Linien, mit denen Schmidt-Caroll das Bild zunächst angelegt hatte, durchschneiden das Gesicht und den Körper der Frau – der Mensch wird unmittelbar in die Komposition eingespannt und damit auch zum Teil seiner städtischen Umgebung. In anderen Arbeiten stehen Frauen vor Kaffeehäusern (Abb. S . 21) oder sind dekorativ vor die Skyline eines modernen, illuminierten Häuserkomplexes gestellt, auf dem Schriftzüge wie «Café» oder «Kino» prangen (Tafel 2). Die Einbeziehung der Schrift dient bei Schmidt-Caroll als Mittel der zusätzlichen Charakterisierung von Orten. Außerdem reflektierte die Künstlerin damit ein großstädtisches Phänomen ihrer Zeit: Leuchtreklamen warben zunehmend für Produkte und Lokalitäten; die Schrift gehörte zum Erscheinungsbild der Straßen und Häuser. Ebenso ist bei Schmidt-Caroll die modisch gekleidete, mit auffälligen Accessoires wie Fliege, Pelzkragen und Hut ausstaffierte Dame Teil einer urbanen Kultur.
Nicht selten sind Kleider und modische Accessoires von Erna Schmidt-Caroll sogar mit besonderer Aufmerksamkeit ausformuliert, dient die «zweite Haut» doch der Repräsentation des Individuums und kann gleichermaßen Ausdruck für einen gesellschaftlichen Wandel sein. In Werken wie Frau mit Schleierhut, um 1931, sind freie malerische Umsetzung und detaillierte Beschreibung von Mode fein ausbalanciert. Die Sitzende hat ihre behandschuhten Hände in den Schoß gelegt und blickt sin nierend am Betrachter vorbei. Der Blick fällt durch die geöffnete eng taillierte Jacke auf einen blauen Wollpullover, unter dem der kleine Kragen eines weißen Hemdes hervorblitzt. Ein verspielter Hut mit zartem Schleier kontrastiert zum sachlichen Kleidungsstil. Virtuos fing die Künstlerin die hauchdünne Transparenz des Stoffes ein und lenkt so die Aufmerksamkeit auf dieses fragile Accessoire. Auch in Der erste schöne Tag stehen Hüte im Mittelpunkt (Abb.). Mit feinsten Strichen skizzierte SchmidtCaroll mehr locker umschreibend denn konturierend drei Frauenköpfe, die versetzt übereinander angeordnet sind. Die Drei blicken, der aktuellen Mode Tribut zollend, einäugig aneinander vorbei, denn Mitte der zwan ziger Jahre umschlossen die Hüte eng den Kopf und wurden bis tief ins Gesicht gezogen; oftmals konnte so nur «ein Auge riskiert werden». 20 Hier wird die künstlerische Arbeitsweise der Schmidt-Caroll sichtbar: Zunächst skizzierte sie ein Motiv mit wenigen Bleistiftlinien auf Papier und bearbeitete die Zeichnung dann mit Aquarell. Die Spuren der Vorzeichnung sind Teil der Komposition; der künstlerische Arbeitsprozeß offenbart sich dem Auge des Betrachters ebenso wie die unverkennbare Handschrift der Künstlerin. Auf diese Weise entstand der Eindruck eines dynamischen «work in progress». Schmidt-Caroll konstruierte das Gesicht der oberen Figurine aus geometrischen Formen, das Oval des Kopfes ist als Unterzeichnung deutlich sichtbar. Diese Betonung des Konstruktiven läßt die Figurinen wie Schaufensterpuppen erscheinen und schafft eine Parallele zu den marionet tenhaften Gestalten etwa eines Oskar Schlemmer.
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Der erste schöne Tag war dem Journal Styl 1924 als Bildtafel beigelegt. In den zwanziger Jahren wurde SchmidtCaroll von Gesellschafts- und Modemagazinen wie Jugend, Roland, Sport im Bild und Mode-Spiegel, der wöchentli chen Beilage des Berliner Tageblattes, regelmäßig beauftragt. Vor allem für die bibliophile Zeitschrift Styl schuf die Künstlerin viele Modetafeln und Textillustrationen. Styl gehörte mit der Aufmachung einer Graphikmappe, die in Handarbeit koloriert wurde, zu den künstlerisch anspruchsvollsten Publikationen der Weimarer Zeit. SchmidtCarolls Arbeiten für diese Zeitschrift sind fragile, künstlerisch freie Werke, die sich mit Mitteln der Phantasie und der
Der erste schöne Tag, 1924
Privatbesitz Dahlen-Friedlaender Die Berliner Jahre
Ausdruckskraft vom modischen Vorbild entfernten. Gefragt waren poetische, interpretierende Entwürfe, die sehr oft sogar zu kleinen Geschichten verdichtet wurden. Die sachliche Schilderung von Mode rückte in den Hintergrund. Es fällt auf, daß Schmidt-Caroll ihren typischen, harten Stil für die Auftragsarbeiten kaum änderte – im Gegenteil, die Grenzen zwischen Journalillustrationen und freien Arbeiten sind fließend: Schmidt-Caroll publizierte in jenen Medien, die ihrer anspruchsvollen künstlerischen Qualität zumindest äquivalent waren. Gemeinsamkeiten mit ihrer Berliner Kollegin Jeanne Mammen, die zu den prominenten Künstlerinnen der Weimarer Republik gehörte, sind augenscheinlich. Mammen publizierte in denselben Medien wie Schmidt-Caroll, wobei ihre sati rischen Milieustudien heute als eigenständige, freie künstlerische Arbeiten rezipiert und nicht in das Schema der Presseillustration gezwängt werden.
Daß Erna Schmidt-Caroll in den Modebildern trotz aller künstlerischer Experimente dennoch das mondäne Erscheinungsbild nicht vernachlässigte, führt ein Blatt von 1929 vor Augen (Tafel 3). Die dargestellte Dame steht mit dem Rücken zum Betrachter und schaut einen Gummibaum an (eine in den zwan ziger Jahren beliebte Grünpflanze, die aufgrund ihrer Schlichtheit und der glatten Blätter gern von den Künstlern der Neuen Sachlichkeit gemalt wurde); sie trägt eine rote Kappe und einen Pelzmantel. Exaltiert streckt sie den Arm nach oben und posiert augenscheinlich für einen imaginären Betrachter. Solche Bilder stehen zwar formal in der Tradition der Modeillustration, Schmidt-Caroll verlieh ihnen jedoch mit Virtuosität künstlerische Eigenständigkeit. «Stilgefühl, Phantasie, Geschmack, Empfinden für die Formen des menschlichen Körpers», 21 sind Eigenschaften, die sie selbst von ihren Schülern nachhaltig forderte.
Lehrtätigkeit an der Reimann-Schule
Zu den angesehensten Ausbildungsstätten in den angewandten Künsten gehörte die Schule Reimann (Abb.). Der Direktor und Gründer Albert Reimann hatte die Lehranstalt im Jahr 1902 mit dem Ziel eingerichtet, seinen Schülern größtmögliche künstlerische Entfaltung mit einem intensiven Praxisbezug zu bieten. In den Mode-, Holz- und Metallwerkstätten konnten die Studenten ihre Entwürfe selbst ausführen.
Die Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann war ein Institut in Bewegung, das sich den neuesten Entwicklungen in Kunst und Design öffnete; Lehrpläne wurden den wechselnden Anforderungen der unterschiedlichen Berufe angepaßt. Gemäß seiner Prämisse, sich umzusehen, «wo künstlerisches Bedürfnis vorlag, das nicht erfüllt wurde»,22 gründete Albert Reimann im Jahr 1910 die erste Klasse zur Ausbildung von Modezeichnern. Sie wurde sogleich von 50 Schülern besucht, die nicht im Kopieren von Modevorlagen, sondern zu eigenständigem kreativen Schaffen angeregt wurden – ein Aspekt, der bei Verlagen und Modesalons gleichermaßen auf große Zustimmung traf. 23 Zudem bemühte sich der Direktor, arrivierte Künstler als Lehrende an seine Schule zu holen: «Ich sah mich nach den besten Lehrkräften um, die es auf diesem Gebiet gab», 24 schreibt Reimann in seinen Lebenserinnerungen. Neben dem Plakatkünstler Julius Klinger, den Modezeichnern Ernst Deutsch und Annie Offterdinger, lehrte auch der Maler Georg Tappert für einige Jahre an der Schule. Mit seinem innovativen Programm und den prominenten Lehrern hatte Reimann großen Erfolg: Begann er bei der Eröffnung der Lehranstalt mit 14 Schülern, so zählte die Reimann-Schule im Jahr 1922 bereits 754 Schüler und 30 Lehrkräfte.25
In jenem Jahr, am 1. Oktober 1922 , wurde Erna Schmidt-Caroll Mitglied des Lehrerkollegiums. Zunächst betreute sie fünf Stunden pro Woche eine Klasse für Modeentwurf. 1925 übertrug man der Künstlerin die Leitung der neueingerichteten Klasse für Kostümfigurinen. Neben ihrer Lehrtätigkeit arbeitete Schmidt-Caroll, wie im übrigen alle ihre Kollegen, freiberuflich weiter. Dies war ein wichtiges Prinzip der Schule, denn die Lehrer soll ten sich in der Praxis fortentwickeln, um ihre Erfahrungen an ihre Schüler weitergeben zu können. Im Jahr 1931
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Schule Reimann in Berlin, 1920 er Jahre Burcu Dogramaci
übernahm Schmidt-Caroll zudem die Klasse für Aktstudium. Als Lehrende an der Reimann-Schule war SchmidtCaroll eine der prägenden Persönlichkeiten und unterrichtete dort über einen Zeitraum von 21 Jahren. Einen großen Anteil hatte die Künstlerin an der hauseigenen Zeitschrift Farbe und Form. Regelmäßig wurden ihre Zeichnungen und Modeentwürfe publiziert, manchmal verfaßte sie auch selbst einen Artikel. Im Mai 1926 widmete man Erna Schmidt-Caroll sogar ein ganzes Heft.
Mit einer großen Ausstellung von Schüler-Arbeiten im Lichthof des ehemaligen Kunstgewerbe-Museums wurde 1927 das 25 jährige Bestehen der Schule gefeiert. Die Ausstellung wanderte anschließend zwei Jahre durch Deutschland, und eine 150 seitige Festschrift dokumentierte den Umfang und das künstlerische Niveau der Lehranstalt. In jenem Jahr umfaßte die Reimann-Schule 33 Klassen und 31 Lehrkräfte. 26 In der Festschrift erschien auch ein Aufsatz von Schmidt-Caroll, in der sie ihr pädagogisches Programm und damit auch ihr Verständnis von der Kunstlehre darstellte: «Unter den Schülern Umfang und Begrenztheit der Fähigkeit herauszuspüren, wieviel Begabung auf diesem Gebiet als überhaupt allgemeines Kunstempfinden vorhanden ist, die Individualität erkennen und danach den Studierenden nach seiner jeweiligen Eigenheit zu leiten, Vorhandenes zu wecken, zu steigern und den Weg der Weiterentwicklung zu führen, ist Aufgabe und Verdienst des Unterrichtenden.» 27 Damit wird deutlich, daß Schmidt-Caroll keineswegs bestrebt war, ihren Schülern den Stempel ihrer Persönlichkeit aufzudrücken. Vielmehr wollte sie die Eigenart und die spezielle Begabung jedes Einzelnen fördern und weiterentwickeln. Jeder Schüler erhielt einen individuellen Stundenplan, der auf seine Fähigkeiten und Interessen abgestimmt war.
Auf Reimanns Initiative hin wurde in der Schule eine kleine Modellbühne errichtet, die mit dem techni schen Zubehör einer realen Bühne ausgestattet war. Hier entstanden Dekorationen für Theater und Oper. Es gab regelmäßige, gefeierte Theaterabende, und Schmidt-Carolls Klasse für Theaterkostüm, die aus der Schule für Modezeichner und der Schneiderwerkstatt hervorgegangen war, lieferte die passenden Kostüme, denn schließlich folgte die Schule dem Prinzip der praktischen Lehre. Als Unterrichtsziel nannte Schmidt-Caroll die Vermittlung sowohl des Kostümentwurfs als auch die virtuose Gestaltung einer Kostümzeichnung. In ihrem Unterricht machte sie ihre Schüler mit der Kostüm- und Kunstgeschichte vergangener Epochen und verschiedener Länder vertraut – nur mit diesen Kenntnissen konnte ihrer Meinung nach ein Kostümbildner erfolgreich gestalterisch tätig sein. Abstraktion vom konkreten Vorbild war der nächste Schritt, mit dem die Künstlerin ihre Klasse kon frontierte. Die «große Kostümbegabung» konnte in den Augen Schmidt-Carolls spielerisch mit Phantasie und solidem Können jonglieren. 28 Zu diesen großen Kostümbegabungen und erfolgreichen Schülerinnen gehörten Olga Klein, Helen Ernst und Hilde Dresel – eine jede grundverschieden im Ausdruck und auf ihre Weise hoch begabt. Dresel hatte den Status einer Meisterschülerin und blieb auch später noch in ihrem englischen Exil der Reimann-Schule verbunden. Zwischen 1937 und 1940 unterrichtete sie an der von Heinz Reimann begründeten Londoner Schule als Lehrerin. Olga Klein beteiligte sich erfolgreich an den Kostüm-Wettbewerben der ReimannSchule und nahm bis in die dreißiger Jahre Unterricht bei Erna Schmidt-Caroll. Helen Ernst wiederum entwarf 1928, 1930 und 1933 die Einladungskarten für die Reimann-Bälle. 29 Diese Gauklerfeste verhalfen der Institution weit über die Schulmauern hinaus zu Reputation und Anerkennung. Die Kostümklasse lieferte die üppige, phan tasievolle Ausstattung. Erna Schmidt-Caroll war wohl die bedeutendste Mitgestalterin der Reimann-Bälle, jener Festivitäten, die in ganz Berlin Furore machten.
Berliner Fasching
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Während des Ersten Weltkrieges hatte ein Tanzverbot existiert. Nach Jahren der Zurückhaltung und Abstinenz drängte es nun vor allem die jungen Leute zu Amusements: «Wir Jungen gingen, so wir Geld hatten, von Bar zu Bar und amüsierten uns. Da gab es dann auch diese Tanzparties und Tanztees, wie überhaupt das Tanzen unglaublich wichtig wurde.» 30 Exotisch ging es auf den vielen Maskenbällen zu, die in den zwanziger Jahren großen Zuspruch fanden und Berlin in einen Verkleidungsrausch stürzten. Zu den wichtigsten Ereignissen Die Berliner Jahre
gehörten das Künstlerfest der Berliner Secession und der Faschingstrubel der Volksbühne. Höhepunkt der Berliner Faschingssaison und Wallfahrtsort aller Maskenliebhaber war jedoch das Gauklerfest der Kunst- und Kunstgewerbeschule Reimann: «Und wenn im Zoo, aufgestört vom schwarzseidenbetulpten Reimann, die Blechmusik entsprang aus einer Ecke, ältere Herren mit rotem Fez, die furchtbar herrlichen Krach mit dicken Trompeten und fetten Pauken herumtrugen in allen Sälen und hinter ihnen die wippende Prozession von Rot, Blau, Gelb, Grün, Seide, Samt, Puder, Lippen, Augen, Bärte, immer bestanden die Kostüme der Damen aus Beinen, da war schon ein Rhythmus im Raume und ein süddeutscher Hauch», 31 schrieb Fred Hildenbrandt, der Feuilleton-Chef des Berliner Tageblattes.
Alles begann mit kleinen Künstlerfesten in den Schulräumen, aus denen sich 1912 Bälle entwickelten. Nach dem Ersten Weltkrieg, in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit, war das Bedürfnis nach Zerstreuung groß. Die Reimann-Bälle wurden erneut mit großem Erfolg veranstaltet, und zwar außerhalb des Schulgebäudes. Ort des alljährlich stattfindenden Spektakels waren die Ballsäle des Etablissements Kroll oder die Festsäle des Zoos. Am gro ßen Kostümball im Sportpalast am 23. Januar 1926 nahmen etwa 7 000 Personen teil. Besonderes Aufsehen erregte 1928 das Fest Alt-Berlin. Man erschien in Biedermeier-Kostümen, die in den Ateliers der Reimann-Schule angefertigt wurden. In einem Wagenkorso kamen die Teilnehmer, darunter Prominenz von Bühne und Rundfunk, zum Festort. Die damals führende deutsche Wochenschau, emelka, drehte einen Film, der in 10 000 Kinos gezeigt wurde.32
Anfangs gestalteten die Lehrer und Schüler nur die eigenen Kostüme. Doch die phantasievollen Kreationen erregten große Aufmerksamkeit, also produzierte man in den Kostümwerkstätten der Reimann-Schule zahlreiche Kostüme, die von den Festbesuchern käuflich erworben werden konnten, und führte eine kostenlose Kostümberatung durch.
Die Entwürfe wurden vom Lehrerkollegium der Schule, Kenan, Maria May und natürlich Erna Schmidt-Caroll, geliefert. Charakteristisch für die Reimann-Bälle waren avantgardistische Phantasie-Kostüme. In der Hauszeitschrift Farbe und Form hieß es 1928 :
«Der Kostümball, der bis zum Weltkriege stets durch einen bestimmten historischen Stil eingeengt war, ist nicht mehr. Er ruhe sanft ! […] Wir werden überhaupt nicht mehr ‹als› gehen, sondern uns […] so verkleiden, daß wir nicht mehr unser alltägliches Ich sind.»33 Grotesk, exzentrisch, übermütig und theatralisch sind die Kostüme aus der Hand SchmidtCarolls. Das nach ihren Entwürfen geschneiderte Frackkostüm (Abb.) hat Anleihen bei der männlichen Abendgarderobe, ist jedoch auch gleichermaßen frech-frivol und eigenwillig. Die Aufhebung von Geschlechtergrenzen in der Kleidung war für die Kostümbälle der zwanziger Jahre symptomatisch und erlaubte den Frauen, sich zumindest temporär mit Versatzstücken der Herrengarderobe zu schmücken. Doch auch im Alltag bedienten sich emanzipierte Frauen maskuliner Accessoires wie Schlips und Zylinder – ein großes Vorbild war Marlene Dietrich.
In den zeichnerischen Entwürfen für ihre Kostüme verarbeitete Schmidt-Caroll Einflüsse des Expressionismus, was sich im kraftvollen Duktus und einer grellbunten Farbigkeit äußert. Eine Kreidezeichnung aus den zwan ziger Jahren (Tafel 7) ist dafür symptomatisch. Sie zeigt eine Dame in farbenprächtigem Kostüm. Auf ihrer mit Perlen geschmückten Perücke trägt sie einen Kopfschmuck, der aus Weintrauben und Blättern besteht; die Arme sind in tänzerischer Haltung vom Körper gestreckt. Der expressive Strich und Farbeinsatz, die Schraffuren und Verwischungen sprechen von einem freien künstlerischen Ausdruck. Das Gesicht ist in Blau, Gelb und Rot gehalten, ebenso die Haut am rechten Arm. Typisch für die Zeit, war auch an der Reimann-Schule die expressionistische Kunst sehr populär: «Die Reimann-Schule hatte die Funktion eines Multiplikators, insofern als sie die Ideen der Avantgarde adaptierte, in gewissem Umfang popularisierte und verbreitete.» 34 Lehrer wie der expressionistische Maler Georg Tappert und auch Erna Schmidt-Caroll, die expressionistische Stilelemente adaptierte, übten großen
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Frackkostüm
Entwurf: Erna Schmidt-Caroll Burcu Dogramaci
Einfluß auf die Schüler aus. Eine ehemalige Schülerin erinnert sich: «1920 wechselte ich dann an die ReimannSchule und lernte hier, neben dem angewandten Modezeichnen, mich noch stärker künstlerisch auszudrücken. […] Überhaupt war der Expressionismus für uns eine der zentralen Kunstströmungen, die unsere künstlerische Arbeit, Denken und Leben zentral beeinflußte.»35 Viele der Kostümentwürfe Schmidt-Carolls, aber auch Innendekorationen, wurden anläßlich der ReimannFeste in der Kostümwerkstatt der Schule ausgeführt. Im Jahr 1935 erschien unter dem Titel Wir zeigen Ihnen 222 Karnevalskostüme ein Heft, das Arbeiten der Reimann-Schule versammelte, darunter auch solche von Erna SchmidtCaroll und ihren Schülern. Die besten aus den Wettbewerben von 1923 bis 1933 hervorgegangenen Entwürfe und realisierten Gewänder wurden präsentiert. Keine andere Kunstgewerbeschule beschäftigte sich so intensiv mit der Gestaltung von Festkostümen; Studenten aus aller Welt kamen an die Berliner Lehranstalt, um sich auf dem Gebiet des Kostümentwurfs und der Festdekoration zu schulen. Nicht wenige erhielten ihre Prägung bei Erna SchmidtCaroll, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit immer wieder mit dem Gauklermilieu, mit Artisten und anderen Bühnenkünstlern auseinander setzte.
Gaukler, Chansonetten und Artisten
Schon bei Emil Orlik begegnete Erna Schmidt-Caroll einer schwärmerischen Leidenschaft für das Theater, die sie mit ihrem Lehrer teilte. Am Deutschen Theater von Max Reinhardt entwarf Orlik Kostüme und Bühnenbilder; für ihn «war die Welt des Theaters ein Tummelplatz seiner Ideen». 36 Sowohl Orlik als auch Schmidt-Caroll widmeten sich jedoch nicht nur den Darstellern, sondern auch den Zuschauern. Im Jahr 1923 veröffentlichte Emil Orlik eine Mappe, die er Zuhörer und Zuschauer nannte. Die Blätter fangen das emotionale Erleben einer Gruppe von Menschen ein, die das gemeinschaftliche Erlebnis der Rezeption verbindet. 37 Das Geschehen auf der Bühne wird von Orlik jedoch ausgeklammert und muß vom Betrachter des Blattes imaginiert werden. Ein ehemaliger Schüler und Assistent Orliks erinnert sich, daß es eine Strapaze gewesen sei, neben ihm zu sitzen, da Orlik die Zuschauer irritierte – «weil er mit der Taschenlampe im Dunkeln sein Skizzenbuch beleuchtete oder fortwäh rend an die Rampe lief, um irgendein Kostümdetail noch genauer zu sehen». 38 Auch Schmidt-Caroll wandte ihr Augenmerk auf ihre Mitmenschen im Zuschauersaal, die dem Treiben auf der Bühne gespannt folgten oder sich über das Geschehen austauschten. All dies notierte sie in dem ihr eigenen nervösen Strich und in der Hast einer stillen Beobachterin.
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Mit Enthusiasmus und besonderer Zuneigung widmete sich Erna Schmidt-Caroll den Themen Varieté und Zirkus. Immer wie der stellte die Künstlerin Clowns dar, Artisten wie den lächelnden Bauchredner mit den Handpuppen (Abb.), Akrobaten, Tänzerinnen und Diseusen. Ihre Liebe zum Theater, Varieté und Zirkus hing auch mit ihrer beruflichen Position als Lehrerin für Kostümentwurf zusammen. Durch die Vorführungen, denen sie als Zuschauerin bei wohnte, erhielt sie Anregungen für viele Kostüme. Schmidt-Caroll brachte die Welt der Künstler und Gaukler mit Anteilnahme zu Papier. In einigen Ausgaben der Reimann-Zeitschrift «Farbe und Form» publizierte sie eine ganze Reihe von Zirkus- und Varietézeichnungen, so auch die ironisch titulierte Bleistiftzeichnung Zwei Breitformate von 1928. Ein übermäßig gewichtiger Clown in kariertem Kostüm schenkt seiner ebenfalls fülligen Partnerin im wortwörtlichen Sinne sein Herz. Kabarett wird hier als Ort der komischen Darbietungen und als Welt der Absurditäten verstanden. Das erotische Moment des Varietés konzentrierte sich für Erna Schmidt-Caroll in den Auftritten der Chansonetten, die in prächtiger Robe und exaltierter Anmut die Bühne beherrschten. In
Mann mit Handpuppen, 1920 er Jahre Bleistift, Feder in Tusche auf Papier, 24 x 32 cm Die Berliner Jahre
einer Kreidezeichnung (Abb.) hielt die Künstlerin den Gesang optisch im Bild fest. Der Blick des Betrachters wird magisch vom feuerroten Mund der Chansonette ange zogen, der zum Singen weit geöffnet ist. Ihr Oberkörper verschwindet hinter einem roten Fächer, der zum einen als kostbares Accessoire, zum anderen als erotisierendes, nur spärlich verhüllendes Material verstanden wird.
Die Verflechtung von Künstler- und Aristenmilieu hat eine lange Tradition, die im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Französische Künstler wie Edouard Manet, Henri de Toulouse-Lautrec und später Pablo Picasso fühlten sich von Bühne und Zirkus magisch angezogen. Dort fanden sie die Themen für ihre Bilder. Besonders Toulouse-Lautrec war in dieser Atmosphäre zu Hause; seine Zeichnungen von Chansonetten, Can-Can-Tänzerinnen und Schauspielern vermitteln viel vom Flair der Pariser Nachtkultur. Später zeigten sich die deutschen Expressionisten fasziniert von der Welt der Amusements. Hier ist neben Ernst Ludwig Kirchner besonders auch Georg Tappert zu erwähnen. Der Künstler wandte sich bevorzugt Sujets aus Zirkus und Varieté zu und hatte eine besondere Vorliebe für die Figur des Clowns, den er als melancholische Randgestalt und als alter ego des Künstlers verstand. Diese außerhalb der Gesellschaft stehenden tragikomischen Figuren interessierten auch Erna Schmidt-Caroll. Ihre Impressionen aus dem Artistenmilieu zeigen bunt geschminkte Clowns (Tafel 9), die ihre Kunststücke vorführen und auf zerbeulten Fahrrädern fahren (Tafel 8 ). Hinter leuchtend bunten Masken bleibt ihre Person verborgen und hervor tritt ihr zweites, künstlerisches Ich – das des komischen Berufsanimateurs. Es sind Gestalten, die zwischen Heiterkeit und Schwermut changieren und deren Facetten Schmidt-Caroll in vielen Bildern einfing. «Wie lebenswahr, ohne Kintopp zu sein, sind diese Menschen in Trikot und Frack, in Clownsdreß und billiger Seide, und ihre Pudergesichter, oft nur mit wenigen Strichen ange deutet, zeigen die ganze Tragikomödie des Artistenberufes», 39 schreibt Koo Bickenbach in einem bemerkenswerten Aufsatz über Erna Schmidt-Caroll und trifft damit den Charakter der Studien.
Die Zeichnung Varieté (Abb.), erschienen als literarische Illustration in der Zeitschrift Styl, ist im Artistenmilieu angesiedelt und übersetzt die bewegte Atmosphäre mit umherwirbelnden Tänzerinnen, Clowns und Gewichthebern auf das Papier. Leichtbekleidete Frauen führen ihre Kunststücke vor und tragen phantasievolle Namen wie Miss Elvira, La bella Louisetta, Li und Lo. Indem Schmidt-Caroll dieses eindrucksvolle Artistenspektakel inszeniert, faßt sie die literarischen Impressionen des Autors Eugen Tannenbaum in Bilder: «Varieté ist Mannigfaltigkeit, unerhörte Abwechslung. Und Präzision. Es verlangt Tricks, Überraschungen, Neuartiges, Verblüffendes, Sensationen, Ekstase.» 40 In den zwanziger Jahren waren nicht nur artistische Darbietungen wie im Berliner «Wintergarten» populär, wie sie bei spielsweise in Ewald André Duponts Varieté in die Filmgeschichte eingingen. Auch Tanzrevuen gehörten zu den Amusements jener Ära. Besonders populär waren die amerikanischen Tillergirls. Ihnen widmete Kracauer 1927 sein Essay Das Ornament der Masse. Dort beschrieb er die konformen Tanzbewegungen der Mädchen als kom plexe Gebilde und mathematische Demonstrationen. 41 Eben diese mathematischen Demonstrationen artikuliert Schmidt-Caroll in bildnerischer Form. Einige ihre Zeichnungen zeigen die Hoffmanngirls (Abb. S. 29 ), die ähnlich den Tillergirls in einer Revue mit Massenchoreographien auftraten. Hier ist interessant, wie SchmidtCaroll die äußerliche Gleichheit und Synchronität der Tänzerinnen auf dem Papier umsetzte. In zweiter Reihe und am Rand verflüchtigen sich die Formen, so daß der Eindruck einer endlosen Reihung entsteht. Die Dynamik des tänzerischen Ausdrucks findet sich in den schrägen Linien der Beine wieder. Die Wiederholungen erschaffen
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Chansonette, um 1928
Pastellkreide auf Papier, 32,8 x 24,3 cm (oben) Varieté, 1924 Abbildung in: Styl, 1924, H 2, S. 53, Privatbesitz Dahlen-Friedlaender (unten) Burcu Dogramaci
einen Rhythmus, der das einzelne Revuegirl zum Teil eines Ornaments werden läßt – ganz im Sinne Kracauers oder wie in Erich Kästners Chor der Girls von 1929, in dem es heißt: «Wir können bloß in Reih und Glied und gar nicht anders tanzen. Wir sind fast ohne Unterschied und tanzen nur im Ganzen.» 42 So ist Schmidt-Carolls Tanzskizze auch ein Zeichen der Zeit, in der sie entstand, einer Dekade, in der Populär- und Unterhaltungskultur zu Pfeilern des großstädtischen Lebens wurden.
Ausstellungen
In den zwanziger Jahren hatte Erna Schmidt-Caroll einen hohen Bekanntheitsgrad als Künstlerin erreicht. Die Lipperheidesche Kostümbibliothek, die heute in der Kunstbibliothek Berlin verwahrt wird, begann Werke der Künstlerin zu sammeln. Gegen Ende des Dezenniums beteiligte sich Schmidt-Caroll an mehreren Ausstellungen. Im Jahr 1927 fand im Haus der Funkindustrie die Schau Die Mode der Dame statt. Eine Abteilung war der Modekarikatur gewidmet, hier war Schmidt-Caroll mit einigen Arbeiten vertreten. Humor in der Malerei bildete auch ein Jahr später das zentrale Thema einer Ausstellung. Die von der Berliner Secession ausgerichtete Überblicksausstellung zeigte Arbeiten von so unterschiedlichen Künstlern wie dem Simplicissimus-Zeichner Karl Arnold, dem Maler Otto Dix und Emil Orlik. Erna Schmidt-Caroll war mit sechs Blättern vertreten, darunter auch Arbeiten aus ihrer Serie Komiker. Über die Bilder Schmidt-Carolls wurde in den zwanziger Jahren geschrieben, ihnen hafte eine «logische[n] Kurve zur Komik» 43 an. Zweifelsohne ist das karikierend Übertriebene, der humoristische Blick auf Menschen und Situationen charakteristisch für ihre Arbeiten aus den zwanziger Jahren. Dies wird deutlich in einer als Karikatur betitelten Kohlezeichnung von 1927 (Abb.), die eine füllige Dame mit modisch-elegantem Erscheinungsbild zeigt. Die tief in die Stirn gezogene Kappe und der moderne Kurzhaarschnitt lassen das Gesicht noch runder erscheinen. Der kniekurze Rock entblößt die strammen Waden. Persiflierend zeichnet Schmidt-Caroll das Gegenbild zu der sportiven, schlanken «Neuen Frau» der zwanziger Jahre. 1930 nahm Schmidt-Caroll an einer Ausstellung der Berliner Secession teil. Die Secession, gegründet 1898, hatte sich innerhalb kürzester Zeit zur einflußreichen Institution für moderne Kunstströmungen in Deutschland entwickelt und nahm, früher als andere Institutionen, Künstlerinnen in ihre Reihen auf. Einflußreiches Mitglied war Käthe Kollwitz, die seit 1912 auch im Vorstand und in der Jury saß. An den Secessionsausstellungen beteiligten sich viele Künstlerinnen als Gäste, darunter Marianne Werefkin, Marie Laurencin – und Erna Schmidt-Caroll.
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Gegen Ende der zwanziger Jahre häuften sich Ausstellungen, an denen aus schließlich Künstlerinnen beteiligt waren. Sie hatten Titel wie Frauenschaffen des XX. Jahrhunderts (1927), Die gestaltende Frau und Das Kind (beide 1930 ). In beiden letz teren Ausstellungen war Erna Schmidt-Caroll mit Arbeiten vertreten. Die gestaltende Frau wurde vom Deutschen Staatsbürgerinnen-Verband im Hause Wertheim initiiert. Das Kaufhaus war seit seiner Eröffnung 1897 das renommierteste Warenhaus Berlins, in dessen Lichthof regelmäßig Ausstellungen stattfanden. Die thematische Ausstellung Das Kind richtete der Verein der Berliner Künstlerinnen aus, der künstlerisch tätigen Frauen bereits seit 1867 eine Lobby bot. Motivation für die Gründung war die Sperrung der Kunstakademien für weibliche Studierende. Künstlerinnen sollten durch den Verein und die Jahresausstellungen neue Einflussmöglichkeiten auf den Kunstbetrieb haben. In den zwanziger Jahren geriet der Verein in eine Krise. Die Vereinsausstellungen und die gesellschaftlichen Aktivitäten fanden kaum noch das Interesse der Öffentlichkeit. Im Jahr 1927 änderte man die Satzung und definierte sich nunmehr als reiner Berufsverband für ausgebildete Künstlerinnen; Kunstgewerblerinnen waren künftig von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Der Verein bemühte sich verstärkt um die Anwerbung neuer, jüngerer Mitglieder. Erfolgreiche Künstlerinnen wie
Karikatur / Dicke Dame II, 1927
Bleistift, 32 x 21,7 cm Die Berliner Jahre
Jeanne Mammen, Renée Sintenis und Martel Schwichtenberg beteiligten sich an Vereinsausstellungen. Gegen Ende der zwanziger Jahre trat der Verein mit thematischen Ausstellungen an die Öffentlichkeit. In der umfang reichen Porträtschau Die Frau von heute waren 90 Werke von 65 Künstlerinnen zu sehen. 44 Galt diese Ausstellung dem zeitgenössischen Bild der Frau, so widmete sich die Folgeschau dem Kinderporträt. An der Ausstellung Das Kind im Jahr 1930 nahm Schmidt-Caroll neben 56 anderen Künstlerinnen teil. Ausstellungen dieser Art dienten dazu, den Ausstellenden neue Porträtaufträge zu vermitteln. Dies schien jedoch auf Erna Schmidt-Caroll nicht zuzutreffen. Auf der Gruppenausstellung Das Kind wurde eine Tombola durchgeführt, bei der die Gewinnerin ein Porträt in Auftrag geben konnte. Sie konnte dabei unter vielen Künstlerinnen wählen, die in der Ausstellung vertreten waren, jedoch bot Schmidt-Caroll ausdrücklich diese Dienstleistung nicht an. Dies hing wohl damit zusammen, daß Schmidt-Caroll nicht wie die meisten teilnehmenden Künstlerinnen von Porträtaufträgen leben mußte und zudem das individuelle Bildnis niemals eine große Rolle in ihrem Œuvre spielte. Erst kurz nach ihrer Teilnahme an der Ausstellung Das Kind stellte Erna Schmidt-Caroll einen Antrag auf Mitgliedschaft und wurde aufgenommen. Die Aufnahme einer Künstlerin setzte die Empfehlung von drei Vereinsmitgliedern voraus und wurde von einer Kommission aus elf Künstlerinnen entschieden.
Ihre erste große Ausstellung hatte Erna Schmidt-Caroll im Jahr 1938 in der renommierten Galerie Gurlitt. Sie zählte zu den alteingesessenen Berliner Kunsthandlungen; die Berliner Galerienszene der letzten Jahrzehnte wurde vor allem durch die Namen Flechtheim, Cassirer und Gurlitt geprägt. Der Gründer Fritz Gurlitt zeigte seit 1880 international ausgerichtete Ausstellungen, so stellte er 1883 die ersten französischen Impressionisten in Berlin aus. Sein Sohn Wolfgang hielt den hohen qualitativen Standard – Oskar Kokoschka, Christian Schad und Alfred Kubin waren große Einzelausstellungen gewidmet. Eine Künstlerin, die wie Schmidt-Caroll auch gebrauchsgraphisch arbeitete, war 1931 in der Galerie vertreten: Gurlitt zeigte die erste Einzelausstellung der bekannten Malerin und Pressegraphikerin Jeanne Mammen. Nach einer finanziellen Krise und der vorüberge henden Schließung der Galerie, eröffnete Wolfgang Gurlitt im Jahr 1938 seine neuen Ausstellungsräume in der Kurfürstenstraße 78. Ab dem 24. April 1938 zeigte der Galerist in seinen Räumen 22 Aquarelle von Erna SchmidtCaroll. Neben einigen Porträts waren auch Landschaften zu sehen, die auf diversen Studienreisen nach Italien entstanden waren. Die figürlichen Werke schlossen thematisch an die Arbeiten aus Ausstellungen wie Das Kind an und sind im Kontext ihrer flüchtigen Straßenbilder zu lesen. Zwei Kinder auf der Straße ist ein Aquarell betitelt, das in der Ausstellung bei Gurlitt vertreten war (Tafel 31). In zerfließender, wäßriger Maltechnik, die sich SchmidtCaroll schon zu Beginn der dreißiger Jahre angeeignet hatte, visualisierte sie zwei Kinder in Winterkleidung. Wieder einmal ist der Gesichtsausdruck verfremdet und nur nachlässig wiedergegeben, die pointierte Schärfe der Arbeiten aus den zwanziger Jahren fehlt jedoch. Stattdessen erwecken die Farben und Formen einen liebli chen Eindruck. Stilistisch und thematisch markieren solche Bilder die Hinwendung zu einer ungefährlichen und unauffälligeren Malerei. Dabei spielten sehr wahrscheinlich die besonderen Zeitumstände eine entscheidende
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Hoffmanngirls, 1920 er Jahre
Feder und Pinsel in Tusche auf Papier, 16,5 x 25 cm Burcu Dogramaci
Rolle. Längst hatten die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Und mit ihnen zogen restaurative Tendenzen in die «gleichgeschaltete» Kunst ein.
Eine Diktatur wirft ihre Schatten
Im Januar 1933 gab es eine öffentliche Vorführung von Kostümen aus der Kostümwerkstatt Reimann im Dachgarten des Café Berlin; auch Entwürfe von Erna Schmidt-Caroll waren zu sehen. Auf diese Weise wurde die alljährliche Reimannsche Faschingssaison eingeleitet. Alles schien wie in den Jahren zuvor. Doch der Schein trog, denn in jenem Monat des Jahres 1933 übernahm Adolf Hitler die politische Führung des Landes und eta blierte eine Diktatur, die alles verändern sollte – auch an der Institution Reimann. Bereits in Heft 6 / 7, 1933 der Zeitschrift Farbe und Form schreibt ein Mitglied des neu geschaffenen ns -Betriebsrates der Schule Reimann: «Wir wollen eine deutsche Kunst, die fest im Boden des Volkes wurzelt – diese Kunst wird man nicht ‹machen› können, sie muß aus der neuen Weltanschauung, aus dem Erlebnis der Volksgemeinschaft heraus entstehen.» 45 Dies stand den Überzeugungen Albert Reimanns und vermutlich auch denen des übrigen Lehrkörpers diametral entge gen. Reimann hatte die individuellen Begabungen seiner Schüler gefördert und die modernen Entwicklungen in Industrie und Wirtschaft im Lehrplan berücksichtigt. Er erlebte nun, wie völkisches Gedankengut Einzug in seine progressive Schulanstalt hielt. Doch zunächst bildete die Reimann-Schule noch ein stilles Refugium, einen Zufluchtsort für einige, aus öffentlichen Ämtern entlassene und verfemte Künstler: «Vor dem Erlaß der ‹Nürnberger Gesetze› genoß die Reimann-Schule als private Institution immerhin noch eine relative – wenn auch eine von Tag zu Tag dahinschmelzende – Freizügigkeit.»46
Die Nürnberger Gesetze von 1935 verboten Albert Reimann die Leitung seiner eigenen Schule, und er wurde gezwungen, die Lehranstalt zu verkaufen. Der neue Leiter, der Architekt Hugo Häring, nannte die renommierte Ausbildungsstätte in Kunst und Werk – Privatschule für Gestaltung um. Hier konnten jene Lehrer unterrichten, die nicht von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren. Zum alten Lehrpersonal gehörte der Modegraphiker Kenan ebenso wie Erna Schmidt-Caroll. Auch unter der Leitung Hugo Härings und der kritischen Beobachtung durch nationalsozialistische Instanzen ging es an der ehemaligen Reimann-Schule recht aufgeschlossen zu: An der FotoAbteilung unterrichtete der Bauhaus-Fotograf Walter Peterhans. Zu den zeitweilig herangezogenen Künstlern zählten Avantgardisten wie Hans Scharoun und Oskar Schlemmer. Dennoch gehörte die geistige Freiheit, die für die Schule noch vor 1933 typisch war, nun der Vergangenheit an: «Daß die Schule gefährlich lebte, wurde […] bei jeder Kontrolle durch die zuständige Schulbehörde deutlich.» 47 Über den Reimann-Ball des Jahres 1934 hieß es in der Berliner Börsen-Zeitung: «Man war ein bißchen neugierig, wie dem Reimann-Ball die Gleichschaltung bekom men würde; denn daß die Balleitung keineswegs gewillt war, frühere Auswüchse zu dulden, ging schon aus dem Merkblatt hervor, das mit den Einladungen versandt worden war.» 48 Das Merkblatt beinhaltete Kostümvorschriften, die eine transparente und erotische Kleidung untersagten. Im Eingangsbereich war eine Sperre angebracht, damit die Gäste begutachtet werden konnten. Auffällig waren die vielen historischen Kostüme und Trachten. Waren die Reimannschen Gauklerfeste ehemals für ihre avantgardistischen und ausgefallenen Kostüme prominent gewesen, so setzten sich nun merklich Konservatismen durch – ein weiterer Einschnitt in den freiheitlichen Geist der Lehranstalt. Ihr Begründer Albert Reimann lebte noch bis 1938 als Privatmann in Berlin, ging jedoch kurz nach der sogenann ten «Reichskristallnacht» am 9. November fluchtartig ins Londoner Exil. Viele ehemalige Schüler besuchten die in London von Heinz Reimann, dem Sohn Albert Reimanns, gegründete neue Reimann-Schule. Schmidt-Caroll und Reimann hielten auch über die ferne Distanz Kontakt. Nach Kriegsende schickte er ihr ein Schreiben, in dem er ihre Mitarbeit an seiner Schule bescheinigte.
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In den Kriegsjahren unterrichtete Erna Schmidt-Caroll zusätzlich auch an einer anderen Lehranstalt: Sie gab Aktzeichenkurse an der Textil-Fachschule Berlin. Dies hing vermutlich damit zusammen, daß an der ehemali gen Reimann-Schule Kunst und Werk die Schülerzahl rapide abnahm. Immer weniger jüdische und ausländische Die Berliner Jahre
Schüler besuchten die Lehranstalt; 1938 waren nur noch 250 Studenten eingeschrieben. 49 Diese Entwicklung setzte sich nach Kriegsausbruch fort. Immer wieder waren die Schule und ihre Lehrer Spottangriffen durch die national sozialistische Presse ausgesetzt, die in der Frage kulminierten: «Ist die Reimann-Schule arisch?» 50 Der anonyme Autor reagierte damit auf immer noch an der Fassade angebrachten Lettern «Schule Reimann», die auf den früheren, jüdischen Eigentümer verwiesen. Trotz der verschiedensten Diffamierungen führten Häring und seine Lehrer die Schule fort. Erst als die Schule am 23. November 1943 bei einem Luftangriff der Aliierten zerstört wurde, war auch Erna Schmidt-Carolls Zeit an der Schule beendet. Es gleicht einer bitteren Ironie des Schicksals, daß die Berliner Reimann-Schule im Jahr 1943 durch englische Bomben zerstört wurde und deutsche Bomben die Londoner Schule 1944 vernichteten.
Längst hatte sich in der Kulturlandschaft Berlins alles verändert. Die Theater und Museen waren «gesäubert» und jüdische Mitarbeiter entlassen, Verlage und Modehäuser in jüdischem Besitz wurden zwangsweise «arisiert». Dazu gehörte auch das Modehaus Hermann Gerson, in dem Schmidt-Caroll im Jahr 1916 ihre ersten Kontakte zur Berliner Mode geknüpft hatte. Künstlerisch tätig konnten nur diejenigen sein, die sich in der Reichskulturkammer registrieren ließen und aufgenommen wurden. Im Jahr 1936 ist Schmidt-Caroll in der Reichskulturkammer nur als nebenberuflich tätige Malerin und Graphikerin registriert, denn sie bestritt ihren Unterhalt vornehmlich durch das Unterrichten. Im Jahr 1937 nahm Schmidt-Caroll an der Internationalen Ausstellung für Kunst und Technik teil, die zu Beginn des Jahres in Berlin und später in Paris gezeigt wurde. Die Abteilung «Textilindustrie» wurde von Mies van der Rohe und Lilly Reich gestaltet, deren Namen jedoch im Katalog getilgt wurden. In großen Schaukästen zeigte man Stoffe und Entwürfe, und vermutlich war Erna Schmidt-Caroll mit Arbeiten aus ihrer Lehrtätigkeit an der Schule Kunst und Werk vertreten. 51 Zwei Jahre später brach der Weltkrieg los, mit weitreichenden Folgen für das Deutsche Reich, für die Hauptstadt Berlin und auch für die Künstlerin Erna Schmidt-Caroll.
Lebewohl Berlin
Als Hermann Göring 1943 die Evakuierung ausrief und Tausende Berliner die zerbombte Stadt verlassen mußten, war nach der Zerstörung der Schule, an der sie so viele Jahre tätig gewesen war, auch Erna Schmidt-Caroll gezwungen zu gehen. Sie kehrte der sterbenden Stadt den Rücken und ließ eine Fülle von Bildern zurück. Glückliche Umstände und Zufälle trugen dazu bei, daß sie diese Werke gut zwei Jahrzehnte später unerwartet wieder in den Händen halten konnte. Eine Nachmieterin hatte die Blätter im Keller gefunden und die Adresse der inzwischen in München woh nenden Künstlerin erkundet. Zurück in Berlin ließ Schmidt-Caroll auch einen Fundus an Themen und Motiven, die sie nie wieder in dieser Form ausführte. Die beschwingte Großstadt mit ihren Kabaretts, den Nachtgestalten und Modemachern, den modernen Frauen, den Reichen und Armen findet sich in den Berliner Bildern der Künstlerin und nur dort. Die Werke aus dieser Periode entstammen einer bewegten Dekade, in der die Menschen, so scheint es rückblickend, im Bewußtsein ihres raschen Falls lebten und deshalb ein geradezu wahnwitziges Lebenstempo entwickelten. Erna Schmidt-Caroll war künstlerische Chronistin jener Zeit mit ihren weltstädtischen Schauplätzen und ihren wechselnden Helden. Über die Bewohner der temporeichsten Stadt Deutschlands hatte Kurt Tucholsky notiert: «Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit.» 52 Nun, die Wahlberlinerin Schmidt-Caroll, kam wirklich aus Breslau in die Weltstadt. Und ihre Arbeitsweise, ihr Duktus und Ausdruck entsprachen in vollkommener Form dem rasenden Herzschlag Berlins. Die Rastlosigkeit der Metropole, die Hast der eilenden Passanten und der gleißende Lichterzirkus der nächtlichen Straßen fanden ihr Äquivalent in den kraftvollen Zeichnungen und in expressiv gemalten Bildern der Künstlerin. Dem Berliner Tempo und der unverwechselbaren Lebensart hatte Erna Schmidt-Caroll eine besondere visuelle Form gegeben. Künstlerisch ging es für sie auch nach dem Weggang von Berlin im Jahr 1943 weiter. Sie fand andere Themen, widmete sich vielfälti gen Genres und malte kontinuierlich bis zu ihrem Tod. Doch der expressive Stil, die funkelnde Phantasie und die Bandbreite an großstädtischen Motiven gehörten der Vergangenheit an.
Burcu Dogramaci