Anmerkungen zum Malerischen Werk von Erna Schmidt-Caroll

Ingrid von der Dollen

«Das neue in der Kunst besteht in der Persönlichkeit des neu auftretenden Künstlers», 1 postulierte Max Liebermann zu Beginn des Jahrhunderts und nahm damit das Wesen jener ersten postmodernen Generation vorweg, deren Kunstschaffen sich jenseits eines abgrenzbaren Gruppenstils in einer individuellen Bildgestalt ausdrückt und dem Beschauer eine bislang unbekannte Facette des Erlebens vorzuführen vermag. Dieses gewährleistet Erna SchmidtCaroll: Ihr freies malerisches Werk, das neben den Arbeiten der angewandten Kunst steht, zeichnet sich durch eine für ihre Generation bemerkenswerte stilistische Kontinuität aus, obwohl ihre Biographie den üblichen radikalen, durch den Krieg verursachten Bruch in der Mitte des Lebens aufweist. Sie gehört zu jenen Künstlerpersönlichkeiten, deren Bildwelt ein Eigenleben zu führen scheint, ungeachtet der äußeren Lebensumstände und unberührt von dem sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts entfaltenden Stilpluralismus. Und dennoch wirkt sich auch bei ihr die Zäsur, die die Künstlerviten der um die Jahrhundertwende Geborenen kennzeichnet, wenn nicht auf Stil und Inhalt, so doch wie bei den meisten – auf die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung aus: Während in der Vorkriegszeit eine rege Ausstellungstätigkeit betrieben wurde, die Beachtung und Erfolg versprach – Erna Schmidt-Caroll nahm u. a. an den Präsentationen der Berliner Secession, der Juryfreien Kunstschau, des Vereins der Berliner Künstlerinnen sowie an den von Max Liebermann veranstalteten Akademieausstellungen teil und wurde 1938 in der Galerie Gurlitt in Berlin vorgestellt 2 – , setzte sich in der Nachkriegszeit für viele, besonders wenn sie weiter gegenständlich malten, der seit der Hitler-Zeit vorgezeichnete Weg in die «Verschollenheit» fort. So wurde das Œuvre der Erna Schmidt-Caroll erstmals überhaupt im Jahre 2000 geschlossen gezeigt, in dem kleinen, ihrer Generation gewidmeten Museum Expressiver Realismus in Kißlegg / Allgäu, 36 Jahre nach ihrem Tode; wenig später widmete der Kunstverein Bergstraße der Malerin eine umfangreiche Schau. Zusammen mit ihrer Beteiligung an einer Malerinnen-Ausstellung in der Mitte der 1990 er Jahre, die dem spät erwachten Interesse am weiblichen Kunstschaffen Rechnung trug und verschiedene Museen Deutschlands durchlief, waren dies bislang die einzigen Anlässe in der zweiten Jahrhunderthälfte, Erna Schmidt-Caroll ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. 3 Ihr bis dahin völlig unbekanntes Werk rief Erstaunen und Bewunderung hervor.

Voraussetzungen des freien Kunstschaffens

Erna Schmidt-Caroll, 1896 als Tochter eines Ingenieurs in Berlin geboren, wuchs in Neisse / Oberschlesien auf und begann ihr Studium 1914 an der Kunstakademie in Breslau bei Arnold Busch in der Klasse für Zeichnen und Aktmalerei. Breslau lag geographisch nahe, empfahl sich aber auch durch seine im Gründungsstatut den Frauen zuge sicherte Gleichstellung. Während des Ersten Weltkriegs, nach der Einberufung Arnold Buschs zum Kriegsdienst, begab sie sich nach Berlin und nahm dort zunächst eine Stelle als Modedesignerin an. Sie war 20 Jahre alt, und es ist bemerkenswert, daß sie in dem berühmten Modehaus Gerson arbeiten durfte, denn dieses gehörte zu den ersten Häusern der Haute Couture in Berlin. Sie blieb dort aber nur vorübergehend und setzte schon im Jahr darauf ihre unterbrochene Ausbildung fort.

Die Akademie war ihr jedoch in Berlin noch verschlossen, ja hier tobte zu jener Zeit ein heftiger Kampf um die Zulassung der Frauen. Soeben, 1916, hatte der Akademiedirektor dem Kultusminister, an den sich der Frauenkunstverband unter Leitung von Käthe Kollwitz bittend gewandt hatte, schroff erwidert, die hemmungs lose Züchtung von Künstlerinnenproletariat dürfe seines Erachtens in bisheriger Weise nicht weitergehen 4 – tatsächlich erzwang erst die Revolution von 1918 die Öffnung der ältesten deutschen Akademie. Inzwischen bot die Unterrichtsanstalt am Kunstgewerbemuseum den Studentinnen nicht nur Ersatz, sondern unter dem mitreißenden Direktor Bruno Paul eine Attraktion: «Das Faszinierende an der ‹Berliner Kunstgewerbeschule› […] bestand darin, daß dort alles jung war, unverbraucht, neu und göttlich frech. Die paar älteren Leute wurden einfach mitgerissen oder überrannt. Paul herrschte ganz souverän. Nur das Können galt. Wie einem Magnet die Eisenteile, flogen ihm von überallher die Begabungen zu. Wenn er ein Talent witterte – und nie habe ich darin einen Instinkt von größerer Sicherheit erlebt –, setzte er sich über alle wurmstichigen Vorschriften, die sich ihm in den Weg stellten, glatt hin weg», berichtet ein ehemaliger Schüler. Neu waren «die absolute künstlerische Freiheit und die Achtung vor dem Handwerk», im Gegensatz zur akademischen Auffassung, «Kunst finge erst beim Ölgemälde an».

Die Kunstgewerbeschulen waren aus diesen Gründen damals unter den Ausbildungsstätten die fortschritt lichsten Institutionen, dort experimentierte man mit allen möglichen Materialien, und es ist charakteristisch, daß Erna Schmidt-Caroll zu einer Mischtechnik fand, in der sie fast ihr ganzes Werk schuf und bei dem der Herstellungsprozeß nicht selten ein Rätsel bleibt: Sie malt nebeneinander oder gleichzeitig auf einer Fläche mit verschiedenen Materialien, und die Oberflächenstruktur ihrer Bilder wird vor allem in der Nachkriegszeit von unergründlicher Vielschichtigkeit. Auch die typische Mittelstellung zwischen freier und angewandter Kunst, die sie ihr Leben lang nebeneinander betrieb und die sich auf manchem Bild begegnen, erscheint als ein Produkt ihrer Ausbildung an einer Kunstgewerbeschule. Schon aus beruflichen Gründen pendelte sie zwischen diesen beiden Bereichen hin und her. Die reinen Mode- und Textilentwürfe stehen auf der einen Seite ihres Werks, die szenischen Darstellungen des Alltaglebens zusammen mit den Landschaften auf der anderen, und auf vielen ihrer Gemälde findet sich der Wesensunterschied der beiden Kunstkategorien aufgehoben, da sich beides durchdringt: Wo Menschen auf der Bildfläche erscheinen, richtet sich der Blick der Malerin immer sowohl auf den äußeren Eindruck der Erscheinung mit allen modischen Attributen der Zeit als auch auf die innere Charakteristik der Dargestellten.

Erna Schmidt-Caroll war als frei schaffende Künstlerin zeit ihres Lebens unabhängig von Publikum und Marktgeschehen, da sie ihren Lebensunterhalt nicht mit ihren Gemälden bestritt. Auch deshalb konnte sie sich ihre Zurückhaltung in Bezug auf eine öffentliche Darstellung leisten; sie stand außerhalb des Wettbewerbs, und ihre Bilder haben schon aus diesem Grunde einen privaten, ja intimen Charakter. Nach ihrem Studium in Berlin hatte sie als freie Mitarbeiterin für verschiedene Journale gearbeitet, einen Aktzeichenkurs an der Berliner Textilfachschule geleitet und lehrte seit 1922 an der renommierten Reimann-Schule, deren glanzvolle Feste, Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben Berlins der Weimarer Republik, sie mitgestaltete, indem sie dafür Dekorations- und Kostümentwürfe lieferte. 6 Der Ruf dieser Schule drang durch Wanderausstellungen über die Grenzen Deutschlands hinaus, und die zahlreichen ausländischen Schüler sorgten für ein weltoffenes Klima. Zusammen mit dem neu artig organisierten Lehrbetrieb in Werkstätten und der Erweiterung auf neue Fachbereiche wie Film, Reklame, Textilkunst und Mode stellte diese Privatschule in Berlin eine Besonderheit dar, bis sie 1943 durch Bomben vollstän dig vernichtet wurde. Erna Schmidt-Caroll mußte Berlin im selben Jahr verlassen. Zur Evakuierung aufgefordert, wich sie nach Herischdorf ins Riesengebirge aus. Dort leistete sie Kriegshilfsdienst in einer Zellulosefabrik und mußte 1945 fliehen. Nach Berlin kehrte sie nicht mehr zurück.

Wie viele Maler und Malerinnen ihrer Generation mußte auch Erna Schmidt-Caroll den Verlust ihres Frühwerks verschmerzen. Was infolge der Evakuierung aus Berlin und der Flucht aus Schlesien verloren ging, schreibt sie in Ihrem Lebenslauf: «Verlust aller Arbeiten, von denen etwas zu retten mir nicht mehr möglich war.» 7 An gleicher Stelle gibt sie an, bei ihrer Evakuierung aus Berlin alle Arbeiten nach Schlesien verlagert zu haben, sowohl die Originale als auch die Reproduktionen. Erna Schmidt-Caroll ging also davon aus, daß von den frühen Berliner Arbeiten nichts erhalten sei, als kurz vor Ihrem Tode ein Konvolut von Bildern aus ihrem unzerstörten Berliner Atelier auftauchte – ein seltener Glücksfall. Zwar war sie selbst von der Qualität des Zurückgelassenen überrascht, doch bleibt festzustellen, daß ihr Hauptwerk aus der frühen Zeit als verschollen gelten muß. So steht die Einschätzung ihres Gesamtwerks unter Vorbehalt. 8 Immerhin aber liefern die wiedergewonnenen Bilder sowie einige erhaltene Fotos genügend Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der künstlerischen Entwicklung ihrer Persönlichkeit.

In der Nachkriegszeit, in Landshut und München, musste sich Erna Schmidt-Caroll ein vollkommen neues Leben aufbauen. Zunächst sicherte sie ihren Lebensunterhalt mit Buchillustrationen. Dickens’ Weihnachtsgeschichten und Stifters Bergkristall wurden von ihr illustriert und veröffentlicht, weitere Tuschzeichnungen zu David Copperfield und Gullivers Reisen, die jeweils als umfangreiches Konvolut im Nachlaß erhalten sind, konnten aufgrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten nach der Währungsreform nicht mehr verlegt werden. Von 1951 an konnte Erna Schmidt-Caroll ihre Unterrichtstätigkeit wieder aufnehmen, sie lehrte als Abteilungsleiterin für Grafik und Mode vier Jahre an der Werkkunstschule in Hannover, danach bis 1962 als Leiterin der Entwurfsklasse für Figur, Akt und Komposition an der Meisterschule für Mode / Werkkunstschule in Hamburg.

Aspekte der Gesellschaft

Die Verschmelzung von angewandter und freier Kunst hatte Schmidt-Caroll in den Berliner Jahren herausgebildet, wo sich das Thema des Menschen im öffentlichen Raum infolge einer neuen demokratischen Geselligkeit anbot. Entsprechend avancierte die Mode zu einem bedeutenden Faktor. In ihr manifestierte sich der durch die Revolution von 1918 herbeigeführte gesellschaftliche Umbruch vor aller Augen, am sichtbarsten im Hinblick auf die neue Stellung der Frau. Schon im Vorfeld der Revolution hatten sich die Frauen durch verschiedene regionale Vereinsgründungen entschieden für eine durchgreifende Reform der Kleidung eingesetzt (der Badische Landesverband für Verbesserung der Frauenkleidung und Frauenkultur von 1913 ist ein Beispiel). Einem Artikel der renommierten Zeitschrift Kunst und Künstler von 1926, Die künstlerische Modezeichnung betitelt, ist zu entnehmen, daß diese damals zu einer eigenen, bis auf Dürer zurückgeführten Kunstgattung aufstieg, der ein moralischer Wert, ja eine politisch-soziale Rolle zuge schrieben wurde: «Das gerade tut uns not: daß die heutigen Künstler uns Mitlebenden unsere äußere Erscheinung sinnvoll gehoben, künstlerisch gesteigert vor Augen führen, auf daß alle, die noch zögern, den Blick von der ‹guten alten Zeit› wegwenden und zum heute ‹ja› sagen.» 9 Auf die politisch-nationale Bedeutung der Mode während des Ersten Weltkriegs wurde schon hingewiesen.10

Es ist bemerkenswert, daß Erna Schmidt-Caroll den Themenkreisen der Berliner Jahre treu blieb, was sie von den zahlreichen anderen, während der 1920 er Jahre in gleicher Richtung Wirkenden unterscheidet – beispielsweise von der ebenfalls das Berliner Leben einfangenden Jeanne Mammen, die seit dem Verschwinden der Berliner Szene zur ungegenständlichen Malerei überging. Die trotz zeitbedingter Wandlung unverkennbare Kontinuität im Werk von Schmidt-Caroll mag sich eben dadurch erklären, daß sie von Anfang an die psychologischen Komponente der Menschendarstellung wie auch das Transitorische ständig wechselnder Situationen und untergehender Momente reizte. Bei aller Skizzenhaftigkeit der notierten Szenen bleibt sie nicht bei der reinen Karikatur stehen, die es nur ausnahmsweise in ihrem Werk gibt. Bei Schmidt-Caroll fehlt aber meistens die karikaturale Übertreibung zugun sten der feinen Differenzierung.

Insbesondere weist ihr Werk nie jenen von ihren männlichen, aus derselben Meisterklasse hervorgegangenen Kommilitonen, George Grosz und Karl Hubbuch, gesuchten Zynismus auf, in dem diese ihr Mißbehagen an den Anmerkungen zum malerischen Werk gesellschaftlichen Zuständen der Weimarer Republik kundtaten. Daß der politisch motivierte gesellschaftskritische Aspekt, der beißende Spott und die genüßliche Verhöhnung der Zeitgenossen, die gerade Dix, Grosz, Hubbuch, Schlichter u. a. bekannt machten, in ihre Bildwelt nicht eindringt, entspricht einem allgemeinen Charakteristikum der Frauen ihrer Generation. Weder Jeanne Mammen in Berlin noch die Dresdnerin Elfriede Lohse-Wächtler haben bei der zentralen Bedeutung, die das Menschenbild in ihrer Malerei einnimmt, je das Gehässige gestreift; ja die Schülerinnen von Dix, Erika Streit und Gussy Hippold-Ahnert, haben sich bei aller Verehrung für den Meister dem Zynischen nie genähert, ebensowenig wie Hanna Nagel, die sich von Hubbuch abwandte. 11 Dieser Abstand zu jener in den 1920 er Jahren hochkommenden, als veristisch bezeichneten Strömung – ein Begriff, der sich zunächst nur auf das altmeisterlich in Öl ausgeführte Staffeleibild bezog – wurde von der zeitgenössischen Kritik erkannt und prägnant formuliert: Von «aufrichtig freudigem Bekenntnis zu dieser Zeit» spricht eine Rezension, wo es wei ter heißt, Erna Schmidt-Caroll sehe «mit dem Auge eines Menschen» und habe den Weg gefunden, «die Seele, das heißt, das Menschliche zu treffen und anstatt der starren, obligaten Maske ein Wesen zu zeichnen, dessen ernsthaft dressierte Pose und Geste ebenso charmant wie lächerlich wirkt und wo man unter der gefälligen Schminke die unerbittliche Furche von Alltag und Schicksal ahnt».

Wie die Motive und ihre Anschauungsweise so bleibt auch der graphische Duktus, der nicht nur ihr zeichne risches, sondern gleichermaßen ihr malerisches Werk kennzeichnet, über den Bruch des Krieges hinaus erhalten und geht vermutlich auf die Schulung durch ihren einflußreichen Berliner Lehrer zurück, der als weithin bekannter Künstler der Berliner Kunstgewerbeschule ein besonderes Flair zu geben vermochte: Emil Orlik. Erna SchmidtCaroll wurde seine Meisterschülerin. Damit steht sie in einer Reihe mit anderen bedeutenden Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, die aus seinem Unterricht erfolgreich hervorgingen: Hanna Nagel mit ihren in feinster Tuschzeichnung ausgeführten surrealen Psychogrammen und Gerda Rotermund, deren Radierzyklen vom Elend der Kriegszeit bemerkenswert sind, sowie der in verschiedenen Techniken experimentierenden Hannah Höch, die zu den wenigen in die offizielle Kunstgeschichte eingegangenen Frauen gehört.

Orlik, von der Wiener Secession herkommend, führte in Berlin die Porträtskizze zur Blüte, indem er das Charakteristische der Person mit dem zeichnerisch Ästhetischen zusammenführte, der schönen Linie, der Mannigfaltigkeit eines flexiblen Strichs, der spannungsreichen Akzentuierung. Neben seiner künstlerischen Inspirationskraft konnte er als Mensch eine Vermittlerrolle zwischen Atelier und Metropole spielen. Er, «der quicklebendige Globetrotter mit seiner befruchtenden Unruhe», 13 gehörte zu den Protagonisten der Kaffeehauslandschaft Berlins, die das Berlin der Künstler und seiner Kritiker geprägt hat – nach dem Motto von Egon Erwin Kisch: «Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muss, wenn man ein Kaffeehaus hat.» 14 Der Stammtisch Emil Orliks befand sich im Romanischen Café, von wo ein Teil seines Werks seinen Ausgang nahm, «nie sah man ihn ohne sein Skizzenbuch, immer auf der Jagd nach originellen Porträts»; 15 um ihn versammelten sich Max Slevogt und Carl Hofer, Max Pechstein und Otto Dix, der Verleger Bruno Cassirer und der Galerist Alfred Flechtheim, ja zuweilen ließ sich auch Liebermann dort sehen.

In diesem Klima fand Erna Schmidt-Caroll die Sujets ihrer frühen Bilder, die sie neben ihrer Entwurfstätigkeit zur freien Malerei benötigte. Die flüchtige Erscheinung von Cafébesuchern, von Passanten, anscheinend unbeob achteten Menschen im Getriebe der Metropole, interessierte sie. Aber wie hatte sich das Lebenstempo beschleu nigt, vergleicht man ihre Bilder mit denen der französischen Impressionisten, denn schon einmal hatte sich eine Kaffeehauskultur von damals neuartiger künstlerischer Inspirationskraft herausgebildet. Die französischen Maler der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts hatten mit ihren Großstadtszenen zwar der neuen, von der technischen Entwicklung verursachten Schnellebigkeit Rechnung getragen und darauf mit einer vor Ort skizzierten alla primaMalerei geantwortet, doch wie sorgfältig notierten sie die Farbvaleurs! Nun, im Berlin der 1920 er und 1930 er Jahre, scheint keine Zeit mehr zum Studium des farblichen Nuancenreichtums der Oberfläche, zur raffinierten, japonisti schen Prinzipien entsprechenden Komposition, die einen Schnappschuss nur vortäuscht. Das Motiv entwickelt sich

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dagegen unmittelbar vor uns aus der spontan geführten Handschrift. Die Berliner Bilder Schmidt-Carolls haben nichts Endgültiges, sondern begnügen sich mit der Annäherung, die der unablässigen Wandelbarkeit des Moments Rechnung trägt. Das Typische der Menschen will sie erfassen: Das Ordinäre einer auffällig modisch gekleideten Person, die auf den Blick des Mannes lauert, vielleicht eben hinter einer beschlagenen Fensterscheibe entdeckt (Tafel 27), häufig auch Paare in Pelz besetzen Wintermänteln und wärmender Kopfbedeckung, die vorübergehen, zu eilig, als daß der Malerin Zeit bliebe, das Bild ganz auszuführen (Tafeln 20, 21), schon bietet sich ein neues.

Eine besondere Liebe verband Erna Schmidt-Caroll mit Kindern. Sie nehmen in ihrer Bildwelt seit frühester Zeit einen wichtigen Platz ein, ja auf sie allein beschränkt sich in den späten 1930 er Jahren ihr bisher so ausgeprägtes Interesse an den verschiedensten Aspekten der Gesellschaft. Wie die meisten Maler und Malerinnen, die Kinder zu ihrem Sujet gewählt haben, stellt sie sie ernst oder gar traurig dar. Auch sie posieren nicht, sondern werden meist aus einiger Distanz beobachtet, zu mehreren beieinander, etwa im künstlichen Dämmerlicht eines Puppentheaters, wo Linien und Farben durcheinander quirlen (Tafel 35), oder alleine, in konzentrierte Beschäftigung vertieft (Tafel 34). Die dem Kindlichen so wenig angemessene Düsternis der Farben ist ebenso wie ihre Ernsthaftigkeit bemerkenswert angesichts ihrer Entstehungszeit, wo die Propaganda bereits heitere, idealisierte Kindertypen für wünschenswert erachtete, denen neben verlogen harmonischen Familienbildern eine Vorbildfunktion zukommen sollte. Solchen ideologisch motivierten Vorgaben ist Erna Schmidt-Caroll nie gefolgt.

Was von ihren Menschendarstellungen der Zwischenkriegszeit blieb, ist trotz der präzisen Angaben zu Personen und Umgebung malerisch unvollendet. Die verschiedensten Materialien sind ihr dienlich: Tusche, Bleistift, Kohle, Farbstifte, Kreiden, Tempera, Aquarell oder Pastell werden nebeneinander verwendet oder kombiniert. In der Vielgestaltigkeit des Strichs und des Farbauftrags, der lockeren und mit sicherem Schwung hingeworfenen Zeichnung, die unabhängig von Gegenstand und Farbe das Bild in seinem Schaffensvorgang sichtbar macht, liegt ihre Kunst. Die Zeit – besonders jene oft zitierte Hektik des Berlin der «roaring twenties» – findet in ihre Malerei unmittelbar Eingang.

Bilder einer Übergangszeit: Die Abkehr vom Menschen

Den Bildern des städtischen Lebens stellt sie später ebenbürtig die Landschaftsgemälde gegenüber. Zunächst ist es das Riesengebirge, später sind es die Alpen, die Schmidt-Caroll auf ihren zahlreichen Reisen nach Italien faszi nieren und zur malerischen Gestaltung inspirieren. Italien schließlich als Ort fremder Kultur und hoher künstle rischer Tradition gewinnt für sie wie für viele Kunstschaffende ihrer Zeit eine nachhaltige Anziehungskraft. Daß sich die Malerin diese für sie neuen Bereiche erschloß, scheint auf die politischen Zeitgeschehnisse, die heranrückende NaziDiktatur, zurückzuführen zu sein: Ihre ersten nachweisbaren Landschaften tragen als Datum das Jahr 1933 . Um diese Zeit verschwinden die Szenen des Berliner Lebens, während gleich zeitig eine Hinwendung zur unberührten Natur und eine nun erwachende Italiensehnsucht in ihrem Werk hervortreten. Beide Themen lassen ihre in den 1930 er Jahren entstandenen Bilder als Flucht vor den politischen Ereignissen und Rückzug in unbela stete, der Aktualität enthobene Gebiete deuten. Die ersten Bilder dieser neuen Phase führen beide Themenbereiche zusammen: Es sind italienische Landschaftsansichten, Küstenbilder, deren scharf verlaufende Uferlinien und bizarren Felsformationen ihrem graphischen Talent entgegenkommen (Tafeln 43, 44). Sie behalten den Charakter der schnel len Reisenotizen. Auch wenn es zum Felsen an der Küste außerdem noch eine Bleistift-Vorskizze gibt, so scheint es sich doch hier um vor Ort notierte Aquarelle zu handeln mit locker-spontanem Farbauftrag unter Einbeziehung des zugrunde liegenden Papiers als Farbwert und einer darüber gelegten feinen Tuschzeichnung für die gegenständli chen Hinweise. Das Erlebnis der mediterranen Welt bereichert ihre Palette durch eine neue Farbigkeit von intensiver Leuchtkraft und starken Kontrasten.

Wie in Italien die Parks so hat sie zur selben Zeit wohl auch die naheliegenden Grünanlagen Berlins ins Auge gefaßt und dabei offensichtlich nicht nur eine thematische, sondern zugleich eine stilistische Wandlung ange strebt. Die erhaltenen Beispiele lassen eine weitgehende Auflösung des Gegenständlichen erkennen zugunsten von Farbklang, graphischem Formenspiel und einer spannungsvoll vibrierenden Oberflächengestaltung. (Tafel 37). Solche Bilder lassen ihre Liebe zu Kandinsky nachvollziehen, obwohl sie selbst auf gegenständliche Hinweise nie mals verzichtete. Was aus dieser frühen Zeit erhalten blieb, sind jedoch im wesentlichen die von ihr zur Seite gelegten Studien. Immerhin lassen einige Fotos Rückschlüsse zu auf das, was ihrem Werk verloren ging.

So zeigt die in einer Schwarz-Weiß-Reproduktion bewahrte Schlucht von 1937, daß sie alsbald zum Gegenstand zurückkehrte und ihre Vorskizzen zu voll durchgestalteten Landschaftsgemälden ausarbeitete (Abb. S. 7). Das Motiv des Gemäldes knüpft an die häufigen Darstellungen der Via Mala an, jenes engen und gefährlichen Weges, der lange Zeit eine Hauptverbindung durch die Alpen nach Italien war.

Die Maler belegten ihn mit verschiedenen Konnotationen, indem sie die an dieser Stelle drohende Gefahr, von Räubern oder plötzlichem Unwetter heimgesucht zu werden, dramatisch ins Bild setzten und den Schrecken als Auslöser für die Empfindung des Erhabenen nutzten. 16 Erna Schmidt-Caroll dagegen nimmt hier eine bezeichnende Umdeutung vor:

Die Zerbrechlichkeit von Brücke, Steg und Hütte, die Winzigkeit des wenig Vertrauen erweckenden Menschenwerks angesichts der gewaltigen Naturformation wie auch das Motiv des Abgrundes als Sinnbild des nicht abschätzbaren Lebensweges, der in der Tiefe lauernden Haltlosigkeit – wo steht der Maler-Betrachter eigentlich ? – nehmen Gedanken der Romantik auf, ohne jedoch den Beschauer auf eine transzendente Interpretation festzulegen. (Die zart-dekorative, rein ästhetische Gestaltung der Vegetation widerspricht einer tiefgründigen Deutung.)

Neben diesem im Foto überlieferten Gemälde bezeugen drei weitere, in Berlin zurückgelassene und deshalb erhaltene Bilder die Bedeutung, die Schmidt-Caroll dem Thema der Schlucht beimaß. Alle sind düstere spätabendliche, gar nächtliche – Darstellungen von dennoch erstaunlich intensiver und differenzierter Farbigkeit, die ihre Leuchtkraft vom letz ten Lichtstrahl oder vom Mondschein beziehen. Hier findet Schmidt-Caroll zu einer festen Bildgestalt, in der sie den skizzenhaften Charakter vorübergehend zugunsten eines dichten Farbauftrags in Tempera und einer vollendet durchgeführten Bildkomposition aufgibt (Tafeln 54 – 56 ). Der Beleuchtung mißt sie in dieser Schaffensphase große Bedeutung zu, indem sie sowohl die Hell-Dunkelkontraste als auch zuweilen spektakuläre Wolkenbildungen für die Bildatmosphäre nutzt (Tafel 67). Nie wieder wird sie später dem Himmel diese Rolle zuweisen, wo sie schließlich auf alle konventionellen Effekte zugunsten einer Konzentration auf die gestalteri schen Mittel verzichten wird.

Romantische Assoziationen, wie sie die finsteren Schluchtenbilder hervorrufen, kehren auch angesichts ande rer Gemälde wieder, wofür die Gebirgslandschaft im Morgennebel ein Beispiel ist (Tafel 57). Sie besonders kann im Zusammenhang mit der neuromantischen Bewegung gesehen werden, die seit den 1920 er Jahren eine Rückbesinnung auf die Malerei Caspar David Friedrichs bewirkte in der Weise, wie sie G. F. Hartlaub 1924 formulierte: « […] die großeMalerei Caspar David Friedrichs, der das Romantische mit der Sachlichkeit des Biedermeiertums verband, das alles hat für die Heutigen einen ganz neuen Sinn und Wert gewonnen». 17 Bedenkt man die nie da gewesene Wertschätzung seiner als typisch deutsch empfundenen Landschaftsdarstellung – übrigens gerade derjenigen des Riesengebirges –, der vielfach nachgeeifert wurde, so läßt sich erkennen, daß Erna Schmidt-Caroll einerseits vom Geist der Zeit berührt wurde, sich andererseits aber nicht – wie mancher Zeitgenosse – in der Imitation verlor: An Caspar David Friedrich erinnert der vom erhöhten Standpunkt aus über die Bergkuppen bis in weite Ferne reichende Blick, die Rahmenlosigkeit des auch zu den Seiten hin unendlich vorstellbaren Panoramas, der geheimnisvoll verhüllende, die Phantasie hervorlockende Nebel; doch hat sie im Gegensatz zu Caspar David Friedrich eine zu religiösem Empfinden inspirierende Einsamkeit durch die Einfügung menschlicher Behausungen im Vordergrund aufgehoben wie auch die Himmelsfläche nur sehr schmal gehalten, die doch Caspar David Friedrich an Größe und symbolhafter Bedeutung dem Erdgeschehen gleichzusetzen pflegte. Bezeichnend ist, daß Schmidt-Caroll zu dieser Zeit auch – wenngleich sel ten – in Pastell arbeitet wie auf dem Bild Einsames Gehöft (Tafel 60), wo sie ganz auf eine für sie sonst typische graphische Präzisierung des Motivs verzichtet und stattdessen die besonderen Eigenschaften des Materials nutzt: seine Weichheit und die Möglichkeit, durch Verwischungen nebelartige Schleier über die Gegenstände zu legen.

Eine engere Bindung an das Naturvorbild ist diesen ersten Landschaftsgemälden grundsätzlich eigen wie der Blick ins Tal (Tafel 61) oder Heimkehrender Waldarbeiter im Gebirge (Tafel 62) sie zeigen. Hier haben die Farbkontraste noch nicht die Kühnheit ihrer späteren Bilder, stattdessen dominiert ein von feinen Grautönen umspieltes, kühles Blaugrün, durchsetzt vom Braun der Felsen, Holzhütten oder Stämme und suggeriert sonnenlose, vom Regendunst feucht triefende Täler. Das stimmungshafte Erlebnis steht im Mittelpunkt – das sie allerdings nie ganz aufgeben wird. Plastizität und räumliche Tiefenwirkung weichen auf diesen frühen Bildern noch nicht einer abstrahierenden graphischen Überlagerung, die die Landschaft in die Fläche bannt, wie es für ihr Spätwerk charakteristisch wird. Doch weist alles, was aus dieser Übergangsphase im Nachlaß erhalten ist, daraufhin, daß Erna Schmidt-Caroll in verschiedenen Richtungen experimentierte und zu neuen gestalterischen Lösungen strebte. Unter diesem Aspekt sticht das Holzfällerdorf (Tafel 52) hervor. Der Verzicht auf eine perspektivisch korrekte Staffelung des von oben gesehenen Ortes, das Bauklötzchenhafte der Häuser, die Stilisierung der Rauchschwaden wie auch der schlichte Rot-Grün-Kontrast geben dem Bild eine naive Komponente, wie sie im allgemeinen nicht zu den Eigenschaften der Malerin gehört, die sich doch eher durch die feine Differenzierung, ja das Raffinement auszeichnet.

In dieser Hinsicht, das Spätwerk vorbereitend, kommt vielmehr einer anderen Bildserie Bedeutung zu: Es sind die kleinen, 1945 / 46 in einer Zeit der Materialknappheit auf Postkarten gemalten Landschaftsbilder mit Motiven des Riesengebirges, die Erna Schmidt-Caroll unmittelbar nach ihrer Flucht aus dem Gedächtnis oder nach kleineren, im Koffer mitgenommenen Vorlagen gemalt hat. Sie waren als Geschenke für Freunde und Verwandte gedacht und können als eine Huldigung an die verlorene Heimat verstanden werden (Tafeln 63 – 66, 69 – 72). Stilistisch stehen sie zwischen den groß gefaßten Landschaftspanoramen der vorangegangenen Jahre, wo vor allem das schöne Motiv noch bildbestimmend blieb (Tafeln 61, 62, 67, 68 ), und der Alpenmalerei ihres Spätwerks. Diese kleinen Bilder der ersten Nachkriegszeit wirken geradezu wie ein Scharnier in ihrem Werk. Hier, im kleinen Format löst sie sich zuweilen schon ganz von einem naturnahen Kolorit und kommt zu kühnen Farbverfremdungen und eigenwilligen graphi schen Lösungen der Flächen (Tafel 69), die sie jedoch nie bis zur Willkür spätexpressionistischer Kompositionen treibt – etwa eines Schmidt-Rottluff, der zur gleichen Zeit neue Ausdrucksformen sucht.

Menschendarstellungen im Spätwerk

Auf dem einzigen Bild des gesamten Œuvres von Erna Schmidt-Caroll, das einen Kommentar zum politischen Zeitgeschehen abgibt, erscheinen erstmals wieder Menschen – als vage angedeutete Schemen, unindividuell und mit wenigen Strichen als Hastende auf verbrannter Erde angedeutet, in chaotischer Flucht vor einer den Himmel glutrot färbenden Feuersbrunst (Tafel 73). Erst in den 1950 er Jahren richtet Erna Schmidt-Caroll ihren Blick wieder auf Anmerkungen zum malerischen Werk

Individuen und Szenen, zu einer Zeit, in der grundlegende gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden haben, die sich in den sensibel registrierenden Beobachtungen der Malerin bildhaft niederschlagen.

Von den spontanen Notierungen der vergangenen, hektischen Berliner Zeit bleibt wenig. Ihre städtischen Bilder der Nachkriegszeit dagegen vermitteln den Eindruck, als verfließe die Zeit um vieles langsamer. Menschen werden seltener vereinzelt ins Visier genommen, vielmehr sitzen sie nun öfters im Gespräch zusammen und sind anteilneh mend aufeinander bezogen. Dem Raum kommt dabei mehr Gewicht zu, er weist eine deutliche Ordnung auf und gibt den Personen Platz statt sie auf viel zu kleiner Fläche gegeneinander zu stellen wie früher, verschiedentlich auch trägt er zur Bildatmosphäre bei und ist nicht mehr auf andeutende Striche reduziert, die lediglich den örtlichen Zusammenhang bezeichnen. Wie sehr nun gerade der Innenraum interessiert, veranschaulicht das Bild Im Hotel (Tafel 79) von 1956. Bühnenhaft, mit Durchblick und reichlich Vorhängen versehen, ist der Raum hier Hauptmotiv und die darin sitzenden Menschen eher Staffage. Bis zum Rand sind die Bildflächen nun ausgefüllt. Allgemein läßt sich feststellen, daß auf diesen späteren szenischen Gemälden die konzentrierte Beobachtung des Voyeurs an die Stelle des schnell erfassenden «Schnappschußfotografen» der frühen Berliner Zeit tritt .

Dennoch aber bleibt die Skizzenhaftigkeit der Technik erhalten; sie ist bei Schmidt-Caroll Teil ihres Stils und Bedeutungsträger. Wie sie dies meint, offenbaren umso eindringlicher ihre Nachkriegsbilder, da diese zwar voll durchgestaltet wurden, den farbig ausgeführten Hauptpersonen jedoch oft Begleiter zugesellt sind, die sich mit feinen weißen Umrißlinien begnügen müssen (Tafel 83). So verhindert sie wieder das Endgültige einer festge fügten Komposition. Bis zur äußersten Möglichkeit skizzenhafter Wiedergabe treibt Schmidt-Caroll das Bild Im Gespräch (Tafel 75). Wenn das Motiv eines kurzen, eindringenden Blickkontakts zwischen Mann und Frau im sta tischen Gemälde überhaupt darstellbar ist, dann in dieser Gestalt: Die Physiognomie der Personen tritt zurück, der Raum weicht einer Farbfläche, indem der Hintergrund verschwimmt, sichtbar dagegen hebt sich ein vibrierendes Linienwerk heraus als Ausdrucksträger inneren Befindens, schlichter in Farbe und Verlauf beim Mann, komplizierter verwoben bei der Frau; daß diese Linien nicht den gegenständlichen Umriß der Personen bezeichnen, erhöht ihre Bedeutung als Psychogramm. Die Sparsamkeit der malerischen Mittel vermindert nicht die Präzision der Aussage, denn eine weitere, abgewandte Figur wie auch die Mäntel des Paares deuten an, daß hier ein Zusammentreffen im öffentlichen Raum stattfindet, was die Intensität des Augenblicks erhöht. Das Profil der weiblichen Hauptperson kommt einem Selbstporträt nahe, das ihr Werk ansonsten nicht aufweist, doch wäre ein derart intimes Sujet viel leicht nicht anders als durch eigenes Erleben möglich.

Immer wieder fängt Erna Schmidt-Caroll Beobachtungen ein, die sie auf der Straße, in Lokalen oder Verkehrsmitteln macht, wie auf dem Bild Mutter mit Kind (Tafel 84). Dieser klein gewählte Bildausschnitt, herausgelöst aus einer Vielzahl unbedeutender Begebenheiten, wie sie sich einem aufmerksam Umsichschauenden in einem Bahnabteil darbieten, liefert eine knappe, präzise Charakteristik der Personen und offenbart gleichzeitig das entschie dene Interesse der Künstlerin an deren modischer Aufmachung. Das Kind, sanft an die Mutter sich anschmiegend, fixiert irgendetwas, das seine Neugier geweckt hat, während die Mutter, fern in Gedanken, sich mit ihrer Hand der Nähe des Kindes versichert. Der sehr nah platzierte, dennoch aber nicht wahrgenommene Betrachter nimmt teil an einer innigen Beziehung, die wortlos und naturhaft die beiden miteinander verbindet, dies umso mehr, als sie sich in fremder Umgebung wissen, die ein von seiner Zeitungslektüre absorbierter Mann andeutet. Die kleine Szene, von einer warmen, herbstlichen Abendbeleuchtung umspielt, wird so einen Moment lang andauern und sich dann in nichts auflösen. Sie einzufangen, ist das Bedürfnis der Malerin, doch reizt sie auch die äußere Gestaltung der Figuren: Täschchen, Hutschnalle und die Stoffqualität der weichfallenden Mäntel bezeugen den geschulten Blick der Modedesignerin.

Eine zwar ebenso schweigsame, aber ganz anders geartete Beziehung führt uns die Malerin vor mit dem Gemälde Ehepaar, Bier trinkend (Tafel 78 ). Wenngleich der Titel nicht von ihr stammt – sie pflegte ihre Bilder nur ausnahmsweise zu betiteln, meistens wurden sie nachträglich von den Bearbeitern des Werks hinzugefügt – , so ist doch einsichtig, daß es sich hier um zwei in langer täglicher Gemeinschaft Zusammenlebende handelt, die sich von der Tagesarbeit ausruhen und nicht mehr das Gespräch miteinander suchen. Der Verzicht auf das sonst meist ausgeprägte Mienenspiel wird hier ausgeglichen durch das Typische der Haltung, die eine durch lange Gewohnheit hervorgerufene Gleichgestimmtheit der beiden verrät.

Aber nicht immer sind es Bilder, die den Betrachter an einer innigen Vertrautheit zweier Menschen teilnehmen lassen, oft bleiben die Menschen stumm und alleine, diesem Thema der Berliner Zeit (Tafel 19) bleibt die Malerin treu, wofür ein Alter Mann das Beispiel gibt (Tafel 76). Ihm ist der wesentliche Teil der Fläche gewidmet, nichts trennt ihn vom Betrachter, ein Tisch mit Glas findet sich seitlich angedeutet, der Hintergrund ist reine Farbe, ein Braun mit Grau, aus denen das helle Mantelgrün der Person heraustritt. Der Mann sitzt da in lockerer Haltung einem tiefen Sinnen hingegeben, das keine Wahrnehmung äußerer Gegebenheiten zuläßt. Hier ist kein ephemerer Moment erfasst, sondern ein andauernder Zustand, wenn nicht gar ein ewig gültiges Sinnbild eines alten Menschen, für den die Zeit keinen Wert und Sinn mehr hat.

Manchmal gibt Erna Schmidt-Caroll Menschen wieder, die alleine sind, weil sie sich unterwegs zu irgendei nem Ziel befinden. Wer kennt nicht den Anblick der unbeteiligt nebeneinander sitzenden Individuen, die der Zufall in denselben Bus hat steigen lassen: Sie warten geduldig, starren vor sich hin ins Leere, nehmen keinen Kontakt auf (Tafel 81), während nun die weiterhin von der Malerin ins Bild gesetzten Zusammenkünfte in den Lokalen Menschen in lebhafter Diskussion miteinander zeigen. Besonders Paare erscheinen in konzentrierter Unterhaltung versunken (Tafel 74), werden in den Vordergrund der Bildfläche gerückt, ja, fast möchte der Betrachter sich als dritter Tischgenosse dazugesellen. Im Hintergrund macht sich Bedienung zu schaffen, skizzenhaft angedeutet, so wie stets im intensiven Gespräch die Umgebung schemenhaft zurückzutreten pflegt. Welch ein Unterschied zu den Paaren der frühen Berliner Bilder, wo Menschen zufällig aneinander vorbeilaufen, ohne sich wahrzunehmen, gar Rücken an Rücken gegeneinander stehen (Tafel 21). Oft macht ein präzise erfaßtes Mienenspiel zusammen mit einer charakteristischen Gestik geradezu auf Themen und Standpunkte der Gesprächspartner neugierig wie etwa auf dem Bild Unterhaltung von 1963 (Tafel 86). Der Beobachter tritt wieder ganz nah an die vor ihm sitzende, die ganz Breite der Bildfläche einnehmende Gruppe heran und überblickt den Raum, in dem ankommende Gäste für den geselli gen Rahmen sorgen. Auf solchen Bildern, von denen es eine Reihe gibt, ist eine derart intensive Bezugnahme der Gäste untereinander, vor allem ein hochgespanntes Zuhören dargestellt, daß von viel beklagter Anonymität moderner Großstadtmenschen, von Entfremdung und Kontaktmangel nicht die Rede sein kann.

Kinder bleiben ihr Thema, ob alleine, in irgendeine Beschäftigung versunken, zu zweit in freundschaftlicher Zuneigung oder beim Spiel, immer zieht die Malerin sie sorgfältig an. Auf dem Gemälde Ballspielende Kinder (Tafel 87) gibt sie ihnen auch verschiedene Frisuren, ja hier erscheint das Ballspiel eher als Vorwand für eine Vorführung von Kinderkleidung. So setzt sich immer wieder ihre Neigung zum Kostümieren durch, und es ist nicht erstaunlich, daß sie in der Nachkriegszeit den Themen des Faschingsballs und des Zirkus treu bleibt. Ein Kostümfest von 1959 steht stilistisch einzigartig in ihrem Werk: Sie gibt hier den räumlichen Zusammenhang auf und schließt sich einer für die 1950 er Jahre typischen Richtung an, die in der Aufsplitterung der Bildfläche in kleinteilige Mosaikstückchen besteht und von daher zu einer ungegenständlichen Farbkomposition führen kann. Diesen Schritt aber hat Erna Schmidt-Caroll auch in den späten 1950 er und beginnenden 1960 er Jahren, als die informelle Malerei vielen zum Inbegriff des Fortschritts wurde, die offizielle Anerkennung versprach, nicht vollzogen. Es bleibt bei einem Abtasten der gestalterischen Möglichkeiten und alsbald kehrt sie zur räumlich-figurativen Malweise zurück.

Von besonderem Reiz sind ihre Gemälde, die aus den Beobachtungen im Zoo hervorgegangen sind. Wenn auch Zoobesuche zum Programm vieler Ausbildungsinstitute gehörten, so hatten doch Tiere im Werk der Malerin bislang keine Rolle gespielt, und es kennzeichnet ihre Persönlichkeit, daß sie auch in den letzten Lebensjahren nicht vor neuen Sujets zurückschreckt. Wie stark aber ihre Begabung ist, treffsicher und schnell die typische Bewegung des Lebendigen zu erfassen, zeigt sich nun auch in solchen Szenen, wo sie die gefährlich schleichende Eleganz der Anmerkungen zum malerischen Werk

großen Katzen oder die plump-mollige Ungeschicklichkeit der scheinbar langsamen Bären. (Tafeln 89, 90) wiedergibt. Diese Bilder lassen schon erkennen, mit welcher Brillanz Felsgestein und Astwerk von ihr malerisch behandelt werden, was dann in ihren Landschaften wesentlich wird.

Der Weg zu einer neuen Alpenmalerei

Mit den Gebirgslandschaften der 1940 er Jahre hat Erna Schmidt-Caroll einen Themenbereich eröffnet, der in ihrem Spätwerk zu einem Höhepunkt führen wird. Da nun löst sie sich ganz von tradierten, inhaltlichen Anspielungen der Romantik und von formalen Konventionen der Gattung. Ja, sie kann als Repräsentantin einer aus neuartigem Empfinden hervorgegangenen Alpenmalerei des 20. Jahrhunderts gelten.

Seit ihrem Erscheinen in der Bildkunst des 18. Jahrhundert fesselten die Alpen die Aufmerksamkeit der Maler immer wieder aufs Neue. Die Schweizer selbst hatten das gewaltige Naturphänomen in die Kunstbetrachtung ein geführt und in Dichtung und Malerei zu ihrem Thema erhoben. Die Aufklärung wies ihnen die Richtung. Mit philosophischem, moralischem Inhalt belegt, konnte Landschaft nun zu einer bedeutenden Gattung aufsteigen, die sich nicht wie bisher darauf beschränkte, allein das Auge zu erfreuen. Die ersten Alpenmaler nahmen unsägliche Strapazen auf sich, um dem Naturwunder nahe zu kommen und es auf die Bildfläche zu bannen. 18 Jean Jacques Rousseau pries die sittliche Wirkung des Hochgebirges: Man atme dort mehr Freiheit, man spüre in sich mehr Heiterkeit im Geiste, das Vergnügen sei da nicht so heftig, die Leidenschaften gemäßigter, ja «die Gedanken nehmen da, ich weiß nicht was für einen erhabnen Schwung». 19 Eine solch nachhaltig läuternde Wirkung der Alpen auf die empfindsame Seele des Menschen mündete schließlich in einem wissenschaftlichen Interesse, das zu minutiösen Untersuchungen der Gesteinsformationen führte und zu einer daraus folgenden hypernaturalistischen Nachbildung auf der Leinwand, 20 beispielsweise bei Carl Gustav Carus, dessen Aufzeichnungen Caspar David Friedrich für seine Gemälde nutzen konnte, ohne die Alpen je gesehen zu haben – wollte er doch nicht Wirklichkeit abbilden, sondern als Pantheist ein Symbol göttlicher Größe und Ordnungskraft schaffen.

Ab der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts wurde das Hochgebirge von den Expressionisten neu formuliert. Ernst Ludwig Kirchner schreibt, für ihn habe «eine neue Art des Sehens und Schaffens an der Hand des Erlebnisses der Berge» begonnen, 21 wobei er jedoch die Inspirationskraft der Bergwelt durch seine eigene künstlerische Maxime wieder aufhob: Der Maler müsse rein aus der Seele ohne die Natur arbeiten. 22 Als Ergebnis solcher Auffassung rühmte er an seinen Alpenbildern das Abstrakte, Willkürliche, Magisch-Suggestive, als wären sie im Traum gesehen. 23 Es war gerade die Naturferne im Angesicht des gewaltigen Eindrucks der Alpen, die der Darstellung durch die Expressionisten eine provozierend neue Variante der Landschaftsauffassung verlieh: «Ich träume ein Tinzenbild [Tinzenhorn] im Abendrot, nur der Berg blau gegen blau, ganz einfach […]. Gelbgrün, rot, violett wie der Vorleger von Fräulein Boner. Ich kann den Teppich direkt abmalen …» 24 Naturempfindung erscheint hier auf die Wahrnehmung von Farbkontrasten reduziert; das vom Format her monumental geplante und ausgeführte Bild gibt mit der Gleichsetzung von Landschaftsprospekt und Teppichmuster eine Auffassung von höchster Subjektivität wieder und verrät darüber hinaus die häufige Reduzierung spätexpressionistischer Bildkunst auf einen rein deko rativen Charakter.

Vor diesem kunsthistorischen Hintergrund erhalten die Alpenlandschaften der Erna Schmidt-Caroll ihre hohe Bedeutung. Daß die auf die Expressionisten folgende Generation zur Erscheinungswelt ein neues Verhältnis gewinnt, daß sie mehr Natur wahrnimmt und so zu einem neuen Realismus findet, führen die Landschaftsgemälde der Erna Schmidt-Caroll deutlich vor Augen. Auch vollzieht sich ihre Begegnung mit Natur jenseits der tradierten Inhalte, wie sie für das 18. und 19. Jahrhundert zitiert wurden, denn eine literarische Befrachtung war inzwischen aus der neueren Bildsprache verschwunden, so wie der Vater der Moderne, Paul Cézanne, es gefordert hatte. An ihre Stelle tritt stattdessen die subjektive künstlerische Gestaltung, die sich zwar in Handschrift und Farbwahl ausdrückt, jedoch nicht mehr willkürlich von der Natur entfernt ist und dem Motto der Expressionisten – «Das Werk entsteht im Impuls, in der Ekstase» 25 – eine Absage erteilt. Vielmehr stellt sich zwischen malendem Subjekt und realem Objekt ein Gleichgewicht ein, wie es für die Vertreter des expressiven Realismus charakteristisch ist.

Erna Schmidt-Caroll läßt den Beschauer eine Vielfalt stimmungshafter Naturerlebnisse nachvollziehen: Nebelhaft feuchte Berghöhen stehen vor ihm oder bedrohlich steile Felswände, zerklüftete Pfade unter gewitterträchtig zuckendem Himmel und Schneegipfel, die den letzten Sonnenstrahl auffangen, frühlingsgrüne Almen zwischen bizarren Felsformationen und bedrohliche Abgründe, eine Alpenlandschaft breitet sich vor ihm aus, jenseits aller Klischees. Selbst dem Alpenglühen gibt sie eine künstlerische Gestalt, deren verhaltene Schönheit sich so weit vom eigentlichen Naturphänomen entfernt, daß es mit neuen Augen anzuschauen ist (Tafel 97). In diesen Gemälden nicht anders als in den großstädtischen Menschenszenen reizt sie die Flüchtigkeit der vom Vorbeiziehenden aufge nommenen Sinneseindrücke, denen sie, skizzenhaft zunächst, später mehr und mehr verfestigt, auf dem Blatt Halt gibt. Dann schafft sie auch Bilder, die nicht allein dem schnell vergehenden Augenblick gewidmet sind.

Aber auch anders als die Stimmungsmalerei der an einer momentanen Farberscheinung interessierten Impressionisten, die eine subjektive Handschrift aufgrund der Auflösung der Gegenstände in Punkte oder Flecken kaum zu erkennen geben, ist bei Schmidt-Caroll der gestalterische Aspekt von gleich großer Bedeutung: In ihm zeigt sich unverwechselbar ihre Persönlichkeit. Ihre Alpenbilder erreichen einen hohen Grad an Abstraktion, insofern Plastizität und räumliche Tiefenwirkung einer graphischen Überlagerung weichen, die die Landschaft in die Fläche bannt. Häufig ist unklar, wo der Betrachter steht – jedenfalls aber in einigem Abstand vor dem Bildmotiv. Auf diese Weise entfällt die natürliche Detailgenauigkeit des Vordergrundes, während die Struktur der Felsen im Hintergrund deutlich sichtbar herangeholt wird. Dies ermöglicht eine gleichmäßige graphische Durchmusterung der gesamten Bildfläche (Tafel 96). Die auffallende Sparsamkeit im Motivischen mag in der Realität des Reizes entbehren und wird im Bild erst durch die gestalterischen Mittel von Struktur, Farbe und Komposition interes sant. Denn Schmidt-Caroll verzichtet auf die bewährten Alpenmotive, die idealen und spektakulären Prospekte als Ausdruck des Heroischen, wozu häufig der Wasserfall gehörte, der nicht nur die Kraft der Natur veranschaulichen konnte, sondern auch als Sinnbild des Lebenszyklus, eines ständigen Vergehens und wiederkehrender Erneuerung aufzufassen war. Zuweilen arbeitet die Malerin bei ihren Alpengemälden sogar ohne jeglichen Blickfang, oft aber fügt sie Berghütten, Kapellen, Wege oder Brücken ein als Indikator für die Größenverhältnisse der gewaltigen Naturformationen. Das Licht behandelt sie abstrakt wie auf dem Gemälde Felsen und Almen (Tafel 102), gibt es nicht allein durch Hell- und Dunkelwerte wieder, sondern durch den Eigencharakter der Farben, die Kälte der Blautöne auf den Felsen, die Wärme des lichten Gelbgrüns der Almen.

Die gestalterische Variationbreite dieser Landschaftsbilder ist groß: Es gibt neben Ausschnitten auch weitge faßte Fernblicke und Nahsichten, es gibt verschiedene Jahres- und Tageszeiten. In der künstlerischen Umsetzung herrscht kein Schema, sondern Stil, d. h. die eigenwillige Art Schmidt-Carolls, insbesondere das Graphische mit dem Malerischen zu vereinen. So setzt sie beispielsweise Tannennadeln zur graphischen Durchgestaltung der Fläche ein, indem sie diese vereinzelt, ferner benutzt sie die gliedernde Wirkung der Baumstämme, denen sie die anderen Gegebenheiten, den steil zu Tale fließenden Bach oder die entfernte Berglandschaft unterordnet (Tafel 115). Auf anderen nimmt sie die Bodenformationen, Spalten, Risse, Steine oder Geröll zum Anlaß für ihr Linienspiel. Und dennoch sind ihre winterlichen Landschaften, wo alle kleinteiligen, strukturierenden Elemente unter der Schneedecke verschwinden, von ebenbürtigem Reiz (Tafeln 104 – 107).

Selbst den Charakter des Transitorischen, der ihre Thematik im allgemeinen kennzeichnet, gibt sie zuweilen auf und schafft Bilder einer ewigen Bergwelt – ihre Gletscherlandschaft ist ein Beispiel (Tafel 91). Hier ist ein Hauptmotiv vorhanden: das von Steilwänden eingerahmte, im Mittelfeld der Bildfläche hoch aufragende Gletschermassiv, vor dem der Beschauer seinen Platz einnimmt, denn nur von diesem Standort aus kann er es bewundern – ein seltener Rückgriff der Malerin auf eines der beliebtesten Alpenmotive. Wo aber früher winzige Menschen in Betrachtung des Naturwunders eingefügt wurden, verweist lediglich ein gerade noch sichtbares Hüttendach auf menschliche Anmerkungen zum malerischen Werk Präsenz. Und dennoch gilt dem Anblick des Gletschers nicht das alleinige Interesse, ihm zur Seite steht gleichwertig die Bedeutung der äußerst fein differenzierten Flächengestaltung, ihr subjektiver, ganz eigener Einsatz von Farbe und Linie.

Es ist diese weit getriebene Verfremdung des Gegenständlichen, die Schmidt-Caroll befähigt, eine neue Formulierung des so viel strapazierten Themas zu bieten. Ihre Technik zieht, ohne manieriert zu sein, das Augenmerk auf sich, ja ist verblüffend: Etliche Farblagen einer Mischtechnik schichten sich übereinander, und ein immer feiner gewobenes Netzwerk aus kolorierten und weißen Linien überzieht die reich nuancierten, aus ungewöhnlichen Farbkontrasten gebildeten Flächen, läßt diese durchscheinen nach Art altmeisterlicher Lasurtechnik und suggeriert ein Relief (Tafel 98 ). Trotz der elaborierten Oberfläche bleibt so der skripturale Charakter ihrer Malweise erhalten, die das Signum ihrer Persönlichkeit ist, so daß uns «die Verschmelzung des Subjekts, des Künstlers, mit dem Objekt, der Natur», wie Liebermann es formulierte, 26 in ihren Bildern beispielhaft vor Augen steht.

Die Alpenlandschaften Erna Schmidt-Carolls sind aber auch außergewöhnlich und neu, weil sie von einer Frau stammen. Gab das Hochgebirge dem männlichen Kunstschaffen in früherer Zeit die Möglichkeit, philosophisches Gedankengut bildhaft zum Ausdruck zu bringen, insbesondere «das Erhabene» mit seinem religiösen und mora lischen Gehalt zu veranschaulichen, zur Meditation anzuregen und die Seele zu rühren, so bietet dagegen Erna Schmidt-Caroll dem Betrachter den Reiz des ästhetisch Gestalteten, «des Schönen». Die Gegenüberstellung der beiden Begriffe geht – neben Schiller – auf Kant zurück, der sagt: «Das Erhabene rührt, das Schöne reizt». 27 Diese Polarität hat er männlicher und weiblicher Wesensart zugeordnet: Man erwarte zwar, «daß ein jedes Geschlecht beide vereinbare, doch so, daß von einem Frauenzimmer alle anderen Vorzüge sich nur dazu vereinigen sollen, um den Charakter des Schönen zu erhöhen, welcher der eigentliche Beziehungspunkt ist, und dagegen unter den männ lichen Eigenschaften das Erhabene als das Kennzeichen seiner Art deutlich hervorsteche».28

Italienbilder des 20. Jahrhunderts

Nach der Eigenart der Alpenmalerei Erna Schmidt-Carolls nimmt es nicht wunder, daß sie auch Italien mit anderen Augen sah, als es die reichhaltige Tradition begeisterter Italienwanderer und -interpreten der früheren Jahrhunderte vermittelte. Wieder eliminiert das 20. Jahrhundert die diesmal mit dem Italienerlebnis verbundenen moralisch-geistigen Werte, die dieses Land zur Quelle der Sehnsucht für die Deutschen hatte werden lassen. Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins bekanntes Goethebild in der römischen Campagna war gleichsam zum Resümee des klassischen Gedankenguts geworden, das der gebildete Italienreisende auf dieses Land projezierte: Die Einheit von Geist und Natur, von Gegenwart und Vergangenheit, von Ewigkeit in der Vergänglichkeit, die der sinnende Mensch aus den Ruinen filterte, indem er die Ideale der Antike zu neuem Leben erweckte (Tischbein zeigt Goethe in Betrachtung des Iphigeniestoffes, worauf das von Efeu überrankte Relief hinweist.); die Gelassenheit und Ruhe, die den Menschen erfüllte, der schauend die vom griechischen Gedanken des Maßes und der Proportion ausgehende Harmonie in sich auf nahm.

Ganz anders, aber nicht weniger vom Inhaltlichen bestimmt, hatte Böcklin das Italienerlebnis der Deutschen vor Augen geführt, indem er die Landschaft mit mythologischem Personal ausstaffierte, und düster Leidenschaftliches dem ruhig-besinnlichen klassischen Ideal entgegensetzte. «Es ist ein arkadisches Genre, das man sucht, weniger die Wirklichkeit: Für die meisten Fremden bleibt Italien ein Gefilde für Seelenwanderung, weniger ein Land für leibli che Begegnungen», wie Bernd Roeck die Erwartungshaltung des gebildeten Reisenden um die Jahrhundertwende charakterisiert. 29 Alle diese Ausdrucksformen der Phantasie und des Geistes sind im 20. Jahrhundert reduziert und auf die individuelle Variation im Erleben eingestellt. So wie etwa Alexander Kanoldt das Klischee des heiteren Latium ersetzt durch seine finster drohenden Bergorte, Olevano oder Subiaco, die ja ursprünglich auf Verteidigung angelegt, manche Grausamkeit über sich hereinbrechen sahen: So erlebte Kanoldt die Gegend und diesen Aspekt kehrt er nun hervor.

Wie Erna Schmit-Caroll Italien sieht, entspricht ihrer aus der bisherigen Betrachtung schon erkannten Persönlichkeit: Während sie bei dem nachhaltigen Interesse, das sie Menschen entgegenbrachte, in ihrem als Übergangsphase bezeichneten Lebensabschnitt weitgehend auf gesellschaftliche Szenen verzichtete, treten diese in ihrem Spätwerk wieder dominierend hervor. Diesen Wandel unterstreicht einmal mehr der Vergleich ihrer italienischen Parkbilder der Vor- und der Nachkriegszeit. Auf den frühen Gemälden herrscht Ruhe. Die Villen stehen verschlossen da, schmale Treppengänge führen steil hinauf, lediglich bepflanzte Terracottatöpfe verweisen auf Menschen, indem sie auf sorgfältige Überwachung der strotzenden Pflanzenwelt schließen lassen (Tafel 46). Hier dominiert ein Farbkontrast, der bei der sonst so differenzierten koloristischen Anlage ihrer Bilder als Ausnahme auffällt: Ein Glutrot von Villen oder Wegen kontrastiert mit dem kühlen Grün der Vegetation, hinzu kommt als Sonnenfleck der durch die dichte, schattenspendende Vegetation dringt, ein aufleuchtendes Gelb sowie ein kleiner Ausschnitt eines tiefen Himmelsblaus. Solche Parkbilder gehören zu den in Berlin zurückgelassenen Arbeiten. Manche dieser wohl verworfenen Bilder weisen einen übertrieben modischen Farbkontrast auf, häufig eines scharfen Pink mit einem Giftgrün, der später einer gemäßigteren Palette weicht.

Ein erhaltenes Foto von einem sicher als endgültig angesehenen Bild (Abb.) erhellt die Bildabsicht Schmidt-Carolls für diese frühe Zeit und die künstlerische Motivation ihrer Italienreisen, die erst in der Nachkriegszeit, durch persönliche Bande begründet, zu regelmäßigen Aufenthalten führten. Stilistisch kann das Auseinandertreten von Farbgrund und darüber gelegter, das Gegenständliche präzisierender Zeichnung als Charakteristikum gelten – es mag von den Bildern eines Raoul Dufy hergelei tet sein. Inhaltlich liegt für die Bildwelt der Vorkriegszeit wieder eine Anlehnung an das Gedankengut der Romantik nahe. Denn so sehr der locker hingeworfene Bildaufbau mit der tänzelnd bewegten Marmorstatue klassischem Formgefühl widerspricht, so deutlich ruft doch dieses Motiv romantische Reminiszenzen wach, wie sie beispielsweise in Eichendorffs Gedicht Sehnsucht anklingen: «Sie sangen von Marmorbildern, / Von Gärten, die überm Gestein / In dämmernden Lauben verwildern, / Palästen im Mondenschein […]». Daß Erna Schmidt-Caroll die Verse dieses Dichters kannte, liegt um so näher, als dieser in Neisse, wo sie ihre Jugend verbracht hatte, besonders präsent geblieben war, weil sich dort seine Grabstätte befand. In der Nachkriegszeit streift sie wie bei ihren Landschaftsgemälden derartige Assoziationen ab, und ihre Parks werden nun zu Orten menschlicher Kommunikation (Tafel 132), deren italienische Besonderheiten sie im Bild festhält.

Neben die Parkbilder treten die Städtebilder. Ein frühes Gemälde von 1938 (Tafel 49) zeigt schon die Absicht, das reine Architekturbild zu vermeiden und Farbflächen durch vielfältige Zeichnung zu überlagern und so zu einer abstrahierenden Form der traditionellen Vedute zu kommen. Aber erst in der Nachkriegszeit prägt sich ihre Eigenart, Statisches und Bewegtes zu einer harmonischen Einheit zu bringen, voll aus. Auf dem Gemälde Abend in italienischer Stadt (Tafel 135) teilt sich die bunte Geschäftigkeit, die in den engen Straßen der südlichen Städte quirlt, der baulichen Kulisse mit, denn bedenklich scheinen hier die Gebäude zu schwanken, nichts ruht mehr im klassischen Ebenmaß – daß Schmidt-Caroll das Formenvokabular und seine Bedeutung kennt, belegt die lavierte Sepiazeichnung Straßenansicht (Tafel 125). Um so aussagekräftiger wirkt die gedrängte Überfülle der archi tektonischen Details von Säulen, Giebeln, Sockeln, rustizierten, mit Schlußsteinen versehenen Portalen, die das von der Renaissance erstrebte Gleichgewicht geradezu ins Gegenteil verkehrt. Hier hat eine vitale Bevölkerung Besitz ergriffen vom historischen Erbe, in dem sie in aller Selbstverständlichkeit und ohne Rücksicht auf die Sehenswürdigkeiten ihren alltäglichen Beschäftigungen nach geht. Die Wirklichkeit ist nun Thema, nicht mehr der Traum eines Arkadien.

Daß Erna Schmidt-Caroll sich der italienischen Variante der Geselligkeit zuwendet, ist nach ihren Berliner Kaffeehausszenen und ihren Menschendarstellungen der Nachkriegszeit zu erwarten. Und welcher Kontrast steht uns dabei vor Augen. Da sitzt man nicht innen zu zweit, zu dritt oder alleine im Café oder Restaurant, sondern verlegt das Wohnzimmer auf die Straße, besonders am Abend, wenn die Mauern die Hitze des Tages zurückgeben. So suggeriert es die Italienische Straßenszene (Tafel 133): Der Fächer ist immer noch nötig, ein Kind darf dabei sein, weil es vor Hitze und Lärm nicht schlafen kann, man hat sich schön gemacht, plaudert nun und begutachtet die Passanten, ein Paar ist soeben vorübergegangen und vorher zwei Uniformierte. Die Fülle der architektonischen Schmuckformen, die die Malerin ohne Rücksicht auf die perspekti vischen Gesetze hinter den Menschen zusammendrängt, steigert den Eindruck eines Durcheinanders, wie es jedem Italienreisenden bekannt ist. Die italienischen Bilder des städtischen Lebens versammeln nicht nur viele heterogene Formen auf der Bildfläche, sondern entbehren auch des Mittelpunkts und der Rahmung, eine scheinbar fehlende Komposition, die den Ausschnittcharakter der Motive betont. – Aber es gibt auch die stilleren abendlichen Szenen, wo Geistliche in langen Gewändern und breiten flachen Hüten vorbeihuschen, wo eine Nonne eine ihr anvertraute Kinderschar nach Hause führt und die Farben zu nächtlichem Blau verbleichen (Tafeln 123, 124).

Ihre steilen Bergorte ( Tafel 120) haben nichts abweisend Verschlossenes wie bei Kanoldt, auch sieht sie diese nicht aus der Ferne von außen nach Art der Romantiker in ihrer pittoresken Staffelung inmitten der Landschaft als Ideal einer Harmonie von menschlicher Gestaltungskraft und naturhafter Schönheit, sondern die Malerin begibt sich diesmal mitten hinein und schaut sich das lebendige Treiben der Italiener an; wirkliche Menschen bevölkern ihre Bilder, nicht historische und bibli sche Gestalten oder Mönche als Pilger auf der rastlosen Suche nach einer besseren Heimat. Bequem ist dieses Leben in den Felsdörfern, wie Erna Schmidt-Caroll es uns zeigt, nicht: Lasten werden auf Eseln transportiert oder auf dem Kopf wie bei allen Völkern, die noch eine ursprüngliche Beziehung zu ihrem Körper haben, steile Treppen sind zu überwinden, um in die wie Nester auf den Felsen sitzenden Behausungen zu gelangen, ein einfaches Leben stellt sie uns vor Augen, wo die Technik nur bedingt eindringen konnte und das Auto gar nichts vermag, wo schließlich noch eine unge brochene Kommunikation zwischen den Menschen lebendig ist, und sich das Leben in gemächlichem Rhythmus abspielt ( Tafel 134).

Schließlich zieht auch die italienische Landschaft weiterhin ihr Interesse auf sich. Ihre Vorliebe für die Küsten bleibt erhalten. Aber anders als die frühen Bilder nimmt sich das sorgfältig in Mischtechnik ausgeführte Gemälde Italienische Häuser am Meer von 1955 aus (Tafel 118 ), ein vergleichbares Motiv, das diesmal nicht durch das Bizarre der felsigen Küstenformation inspiriert ist, sondern das reizvolle Zusammenspiel von Menschenwerk und Natur zum Thema hat. Das Kubische der mediterranen Bauten, die sich an der Steilküste auftürmen, ist hier deutlich wiedergegeben, das Mauerwerk aber durch eine lebhafte Binnenzeichnung charakterisiert, deren Linienwerk das Statische dieses Architekturmotivs aufhebt und im weiten Bewegungsschwung der Meeresbucht mit ihren heranbrandenden Wellen gipfelt. Hier sind Landschaft und Architektur nicht als Gegensatz aufgefaßt, sondern zu einer Einheit verschmolzen. Himmel und Horizont vermeidet sie oft, was sie, wie auf diesem Gemälde, für gewagte Perspektiven und Ausschnitte freisetzt. Es ist bemerkenswert, daß eines ihrer letzten Italien-Bilder ein Küstenmotiv ist und zugleich ein Höhepunkt in ihrem Werk am Ende ihres Lebens (Tafel 136 ).

Ein Vergleich innerhalb ihrer eigenen Generation mag abschließend die Spannweite individueller Sichtweisen in Bezug auf das Italienerlebnis im 20. Jahrhundert andeuten und so den eigenen Schmidt-Carolls von dieser Seite her beleuchten: Ein geradezu entgegengesetztes Interesse treibt beispielsweise das Kunstschaffen des Dresdner Malers Theodor Rosenhauer (1901 – 1996 ) auf seinen südlichen Reisen an. Ihn inspiriert nicht das pulsierende Leben, das Skizzieren einer wechselvollen Szenerie von Menschen, sondern seine Bilder spiegeln gerade die Versenkung in das gewählte Motiv wider, sie sind statisch und zeugen von einem langwierigen Malprozeß, wie ihn das sorgfältige Studium etwa eines Jahrhunderte lang von glühender Hitze bearbeiteten Mauerwerks erfordert; ihn fasziniert die materielle Oberfläche der Dinge. Solche Sujets bieten sich ihm in der alten Kulturwelt des mediterranen Raums. Andere Maler dieser Generation, wie Franz Frank (1897 – 1986 ), richten ihren Blick auf das gleißende Licht des Südens, das seinem lebhaften «Corinth’schen Malvorgang» entspricht, von dem zu lernen sei, «wie ein Fleck vibrie ren kann, indem er dem Fleck nachbarschaftliche Beziehungen zutraut», wie es bewundernd sein Malerkollege Bruno Müller-Linow (1909 – 1997) formulierte, 30 der selbst feingliedrige Aquarelle der architektonischen Kulissen von Roms festlichen Piazzen geschaffen hat.

Schließlich ist Max Peiffer Watenphul (1896 – 1976 ) anzuführen. Er benennt auch die Herausforderung, der sich ein Maler des 20. Jahrhunderts im Angesicht dieses Landes gegenüber sieht: «Es ist alles so unglaublich oft photographiert worden und auf Postkarten abgebildet worden […] ! Ich habe mich ein ganzes Jahr bemüht und immer wieder alles, was ich am einem Tag gemalt habe, abends zerstört, nur weil es mir einfach nicht gelingen wollte, alle diese so unglaublich oft abgebildeten Dinge neu zu sehen und eine persönlich gefärbte Darstellung von ihnen zu geben.» 31 Und dennoch schafft gerade dieser Maler Venedig-Bilder von nie zuvor gesehener Anschauung des Motivs in nie zuvor erdachter Technik: «Das sind keine Veduten und keine eigentlichen Architekturbilder, das sind zu Visionen vergänglicher Schönheit gewandelte Begegnungen mit der Wirklichkeit einer dem Untergang geweihten Stadt.» 32 In der Spiritualisierung der bekannten italienischen Motive sah er das Ziel seiner Malerei, das er erreichte.

So enthüllt der Vergleich mit ihren männlichen Kollegen auch in ihren Italienbildern einen typisch weiblichen Wesenszug: Der Blick der Malerin richtet sich auf die Szenen und Kulissen menschlicher Kommunikation; er wird nicht von einem systematischen, theoretisch begründeten Suchen geleitet, sondern folgt dem spontanen Eindruck des Italienerlebnisses.

Zur Einordnung des Werks

Max Liebermann, der hier als Leitfigur für das Verständnis moderner Malerei zitiert wird, weil er weitblickend den Künstler des 20. Jahrhunderts vom Zwang zur Innovation befreien wollte, indem er ihn zur Entfaltung seiner einmaligen Persönlichkeit aufrief, präzisiert verschiedentlich, was er damit meinte: Ein Meister sei «der uns mit den Mitteln seiner Kunst sein seelisches Erlebnis so zu übermitteln versteht, daß wir es miterleben». 33 Nun ist gerade das Œuvre der Erna Schmidt-Caroll so eigenständig, daß es uns in besonderer Weise die seit Jahrhunderten bekann ten Motive mit ihren Augen wahrnehmen läßt, denn vom Gegenstand her ist nichts neu in ihrer Bildwelt; von der Ausführung dagegen und von der Anschauung her alles. Das Werk steht stilistisch einzig da, denn wenig nützt dem, der sich mit dieser Malerin befaßt, der Hinweis, daß sie Cézanne, van Gogh und Kandinsky schätzte – für ihr eige nes Werk hat sie von ihnen kaum etwas übernommen, außer den grundsätzlichen Errungenschaften des eigentlich Modernen in der Farb- und Raumauffassung. Dennoch ist die Malerei Schmidt-Carolls nicht außerhalb ihrer Zeit zu sehen, vielmehr spiegelt sich diese in mannigfaltigen Reflexen in den Bildern wider, ja von einem «lebendigen Ausdruck der Zeit» ist in einem Text von 1926 gar die Rede.34

116 Anmerkungen zum malerischen Werk

Schon in den 1920 er Jahren wurden die aus dem Erleben deutschen Großstadtgetriebes hervorgegange nen Bilder Erna Schmidt-Carolls stilistisch präzise lokalisiert als «zwischen Photographie und Manieriertheit expressionistischer Kunst» 35 liegend, d. h. zwischen der mit der Fotografie an exakter Detailtreue wetteifernden Neuen Sachlichkeit und dem die Dinge willkürlich deformierenden Expressionismus. Damit ist der Standort des zu Beginn der 1920 er Jahre sich herausbildenden expressiven Realismus bezeichnet, der sich in der Nachfolge des Expressionismus zwar wieder mehr an der realen Erscheinungswelt orientiert, jedoch andererseits die lei denschaftslose Abbildungstreue der Neuen Sachlichkeit ablehnt. Daß dieser mittlere Weg einer malerischen Wirklichkeitsaneignung ein Kontinuitätsträger innerhalb des Stilpluralismus des 20. Jahrhunderts ist, führt das Werk der Erna Schmidt-Caroll beispielhaft vor Augen.

Und noch eine Besonderheit, die ihrer Generation mit ihren speziellen, stilistischen Vorlieben eigen ist, weist das Werk Schmidt-Carolls nach: Sie strebt nicht das museale Ölgemälde an, sondern schafft ihr gesamtes Œuvre in Mischtechnik auf Papier. Erst die Expressionisten haben in der künstlerischen Emanzipation der Arbeiten auf Papier eine Pionierleistung vollbracht. Die Gründe dafür sind vielfältig: «Der in einem noch wenig erforschten Zusammenhang mit der Freilichtmalerei stehende Aufbruch der ‹Brücke›-Künstler in die Natur, die Betonung der subjektiven Komponente im Kunstwerk, der aus der fortschreitenden Emanzipation des Künstlerischen entspringende Hang zum Spontanen und Skizzenhaften geben dem Aquarell und der Zeichnung einen ganz anderen Rang. Diese Techniken sind nun nicht mehr nur Hilfsmittel auf dem Wege zum endgültigen Kunstwerk, dem Gemälde, sondern sie gelten als gültige Äußerungen des Künstlers, als autonome Kunstwerke.» 36 Daneben nennt Rainer Zimmermann weitere Ursachen: «den kunstimmanenten Grund einer fortschreitenden Aufwertung des Skizzenhaften in der Bildkunst» als häufige Gemeinsamkeit expressiv realistischer Malerei, schließlich «die außerkünstlerischen Ursachen dieses Tatbestandes», die «mannigfaltig und oft bedrückend» aus den Biographien ablesbar sind.37

Die nachexpressionistische Generation schuf, selbst wenn sie mit Öl arbeitete, z. T. ihre bedeutendsten Werke im Medium des Aquarells und der Druckgraphik: «Es darf die Behauptung gewagt werden, daß für keine Generation zuvor Arbeiten auf Papier eine solche Bedeutung erlangt und einen derartigen Umfang angenommen haben, wie für diese Künstler zwischen den zwanziger und den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts.» 38 Erna Schmidt-Caroll steht also auch in technischer Hinsicht beispielhaft für ihre Generation. Überdies trifft bei ihr ein weiteres Moment zu: Frauen bevorzugten in besonderer Weise das Arbeiten auf Papier. Sie strebten gegenüber dem repräsentativeren Ölgemälde eine Nah-Sicht erfordernde, intime Bildkunst an. Nicht zuletzt in dieser selbst gewählten Beschränkung mag ein Grund für ihre «doppelte Verschollenheit» liegen.

Für Erna Schmidt-Caroll ist die Polarität ihrer Themenwahl kennzeichnend, was ihrem freien Werk eine bemerkenswerte Spannung verleiht: Auf der einen Seite gilt ihr Interesse dem Menschen im Getriebe der Großstadt, im differenziert beobachteten Beziehungsgeflecht wie auch in seiner modischen, die Individualität verratenden Aufmachung, auf der anderen Seite fasziniert sie die Natur in ihrer Einsamkeit und Ursprünglichkeit. Während die Darstellung des Menschen für die Malerinnen ihrer Generation einen allgemein hohen Rang einnimmt, stehen ihre Alpenlandschaften ohne Parallele im weiblichen Kunstschaffen. Landschaft ist, abgesehen von zahlreichen aquarellierten Reisenotizen,39 die in der Folge der ausgeprägten Reiseaktivitäten der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden, im allgemeinen nicht das Thema der Frauen. Hingegen fehlen bei Schmidt-Caroll gerade diejenigen Gattungen, die weiblicher Kunstausübung seit jeher mit Recht zugeschrieben wurden: Porträt und Stilleben. Das Fehlen, ja bewußte Vermeiden 40 dieser Gattungen unterstreicht ihr Desinteresse am sorgfältig studierten Detail des Gegenübers, am künstlich Arrangierten, am Statischen, bemerkenswert vor allem angesichts der in den 1920 er Jahren entstehenden Neuen Sachlichkeit! Von den vorherrschenden Tendenzen ihrer Zeit – sei es vor dem Krieg oder danach – fast unberührt, gilt ihre Aufmerksamkeit gleichbleibend dem Thema des Transitorischen. Für den ephemeren Moment des Erlebens findet sie eine malerische Ausdrucksform, die so persönlich ist, daß ihr Werk kaum mit bisher Bekanntem verglichen werden kann.